Frankreich. (Juli 16.— Aug. 6.) 265
(Haute Cour de Justice) beginnt der Prozeß gegen den Abg. und ehem.
Minister des Innern Dr. jur. Louis Malvy (s. S. 244). Als Vorsitzender
sungiert Senatspräsident Dubost, als Generalstaatsanwalt Mérillon;
die Verteidigung führt Rechtsanwalt Bourdillon.
Zunächst verliest Senator Péres den Bericht der Untersuchungs-
kommission der darlegt, daß die Kommission sich bemühte, in unpartei-
ischer Weise Licht in die gegen Malvy gerichteten Anklagen zu bringen,
nämlich erstens den Feind über militärische Pläne unterrichtet zu haben,
hauptsächlich über den Angriff am Damenwege (April 1917), und zweitens,
den Feind durch Hervorrufung von Meutereien begünstigt zu haben. Der
Bericht bemüht sich, die Haltlosigkeit der beiden hauptsächlichsten Anklage-
punkte zu beweisen und bezeichnet die Tragweite und den Charakter der
militärischen Meutereien v. Mai und Juni 1917, die eine gewisse Zahl von
Regimentern ergriffen hatte, als nicht gegen das Oberkommando, sondern
gegen die Regierung gerichtet. Diese Meutereien seien verursacht worden
durch pazifistische Flugblätter, die in der Armee und im Lande verbreitet
worden seien. Nach der Ausschaltung der Anklage wegen Hochverrats
bezichtigt der Bericht, dessen Verlesung am 17. fortgesetzt wird, Malvy einer
Reihe von Fahrlässigkeiten im Amte. Er macht ihm insbesondere seine
Beziehungen zu Almereyda und anderen Defaitisten und seine sträfliche
Nachsicht den Anarchisten gegenüber zum Vorwurfe, die in den Jahren
1916/17 eine schädliche Propaganda frei betreiben konnten. P. verliest zur
Erhärtung dieser Behauptungen Stellen aus pazifistischen Blättern und
anarchistischen Schriften. Er macht weiter Malvy den Vorwurf, die maxi-
malistische Propaganda in Frankreich geduldet zu haben. Einer der gefähr-
lichsten Vertreter Trotzkis sei nicht ausgewiesen worden trotz des Verlangens
des Leiters der Abteilung für öffentliche Sicherheit, da sich Malvy infolge
eines Schrittes des Abg. Moutet dem widersetzte. Gewisse russ. Anarchisten
bereisten Frankreich und erklärten, Frankreich und England seien es gewesen,
die die Neutralität Belgiens verletzt und Deutschland mit Krieg überzogen
hätten. Dem Minister des Innern oblag die Verantwortung für die
nationale Sicherheit. Stehe ihm das Recht zu, seine Verantwortung hinter
derjenigen der Regierung zu verstecken? Gewiß nicht, denn er habe niemals
seinen Kollegen Fälle dieser Art unterbreitet, die ihm von seinen Beamten
vorgelegt worden waren.
Am 18. hält Generalstaatsanwalt Mérillon eine in leidenschaftlichen
Ausdrücken gehaltene Anklagerede, in der er zu dem Schlusse gelangt, daß
die Mitschuld Malvys an einem Landesverrate, der die Existenz des Landes
gefährdete, außer Zweifel stehe.
Hierauf beginnt das Verhör Malvys, der die gegen ihn erhobenen
Beschuldigungen zurückzuweisen und seine Haltung zu rechtfertigen versucht,
indem er erklärt, daß die von ihm als Minister des Innern ergriffenen
Maßnahmen im Einvernehmen mit seinen Ministerkollegen getroffen worden
seien. Die Meutereien des vergangenen Jahres seien auf das Scheitern der
Apriloffensive zurückzuführen. Weiter weist M. vor allem darauf hin, daß
er durch persönliches Eingreifen bei den Streiks im Frühjahr 1917 in
Paris, an denen 98000 Arbeiter teilgenommen hätten, und die um ein
Haar in eine Revolte umgeschlagen wären, mit Hilfe Jouhaux' und Merr-
heims die Lage in wenigen Tagen weniger kritisch gestalten konnte. Seine
Beziehungen zum großen Hauptquartier seien die besten gewesen, was er
durch Briefe Pétains und Nivelles belegt. Am Schluß seines Verhöres
(am 19.) richtet M. eine heftige Anklage gegen seinen Hauptwidersacher
Daudet und Maurras, die in ihrem Blatte „Action Frangçaise“ die „Union
sacrée“ predigten, während sie in Versammlungen der Royalisten die Re-