Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Kußland. (Jan. 18.—19.) 409 
jeden Nation überläßt, eine selbständige Entscheidung auf ihrem eigenen 
vollberechtigten Kongreß der Sowjets zu treffen, ob und auf Grund welcher 
Normen sie wünschen, an der föderativen Regierung und an den übrigen 
föderativen Sowjetinstitutionen teilzunehmen. 
Hierauf hält der Führer der Soz.-Rev. Tschernow, nachdem er mit 
244 gegen 151 Stimmen, die auf Frau Spiridonowa (Linkssoz.-Rev.) fallen, 
zum vorläufigen Vorsitzenden gewählt ist, eine große Programmrede, worin 
er die Lage Rußlands als sehr schwierig bezeichnet Unglücklicherweise hätten 
die friedlichen Neigungen Rußlands bei den anderen Kriegführenden, die, 
wie namentlich die Zentralmächte, noch von imperialistischen Ideen erfüllt 
seien, kein starkes Echo gefunden. Er hoffe, daß Rußland sein Heil finden 
werde in den Sympathien der sozialistischen Arbeitermassen Europas, die 
alle vom Kriege erschöpft seien. Die Nationalversammlung müsse die In- 
itiative ergreijen zum Abschluß eines demokratischen Friedens. — Sodann 
legt im Namen der Maximalisten Bucharin ausführlich die Grundsätze 
der Partei dar und gibt bekannt. daß diese fortan den Namen „Kom- 
munistische Partei“ führen werde. Nach Bucharin sprechen u. a. Bolerko, 
der für die Räteregierung eintritt, und Zeretelli, der in einer langen. 
Rede die Maximalisten angreift. 
Nach Mitternacht beschließt die Versammlung mit 273 gegen 140 S Stimmen 
der Max. und der Linkssoz.-Rev., die Erörterung über die Erklärung des 
Hauptvollzugsausschusses, die die Anerkennung der Sowjetregierung und 
ihrer Erlasse fordert (s. o.), zu vertagen und zunächst die Friedensfrage zu 
erörtern. Als Protest gegen diesen Beschluß gibt Raskolnikow im Namen 
der Max. folgende Erklärung ab: Die beträchtliche Mehrheit des arbeitenden 
Rußland, Arbeiter, Bauern und Soldaten, hat sich an die V. V. mit der 
Forderung gewandt, die Errungenschaften der Oktoberrevolution: die Erlasse 
der Sowjets über Grund und Boden, über den Frieden und die Arbeiter- 
kontrolle und vor allem die Autorität der A.-, B.= und S.-Räte anzuerkennen. 
Der Hauptvollzugsausschuß hat in Ausübung des Willens der beträchtlichen 
Mehrheit der arbeitenden Klassen Rußlands der V. V. vorgeschlagen, diesen 
Willen anzuerkennen. Die Mehrheit der V. V. hat im Einklange mit den 
Forderungen der bürgerlichen Klasse diesen Vorschlag abgelehnt und dem 
gesomten arbeitenden Rußland den Fehdehandschuh hingeworfen. In der 
V. V. leitet die Mehrheit der Sozialrevolutionäre der Rechten, die Partei 
der Kerenski, Aksentiew, Tschernow, diese Partei, die sich sozialistisch und re- 
volutionär nennt, den Kampf des bürgerlichen Elements gegen die Revolution. 
Die V. V. in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung ist das Ergebnis des 
Kraftverhältnisses, wie es vor der Oktoberrevolution bestand. Ihre gegen- 
wärtige gegenrevolutionäre Mehrheit, auf Grund der alten Parteilisten ge- 
wählt, stellt sich der Bewegung der Arbeiter und Bauern in den Weg. Die 
Debatte des heutigen Tages hat gezeigt, daß die Partei der Sozialrevolutio- 
näre der Rechten, wie sie zur Zeit Kerenskis das Volk mit leeren Ver- 
sprechungen abspeiste, dem Volk alles verspricht, in Wirklichkeit aber ent- 
schlossen ist, gegen die Autorität der A.-, S.= und B.-Räte, gegen die soz. 
Maßnahmen der unentgeltlichen Verteilung von Land und Inventar an 
die Bauern, der Nationalisierung der Banken und der Kontrolle und Un- 
gültigerklärung der Staatsanleihen den Kampf zu führen. Da wir auch 
nicht einen Augenblick die Verbrechen der Volksfeinde decken wollen, erklären 
wir, daß wir aus der V. V. scheiden, um der Autorität der Sowjets den 
endgültigen Abschluß der Frage nach dem Verhältnisse zum gegenrevolutio- 
nären Teil der V. V. anheimzustellen. 
Daraufhin verlassen die Maximalisten und die Linkssoz.-Rev. den Saal. 
Um 4 Uhr morgens des 19. wird die Versammlung durch Matrosen und
	        
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