Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

430 Kußland. (Mai 15.—Juni 4.) 
ganze finnische Territorium anerkannt, beide Regierungen seien aber über- 
eingekommen, Fort Ino Rußland zu belassen, um „die gemeinsamen Inter- 
essen der sozialistischen Republiken zu schützen“. Natürlich habe die Bourgeoisie 
Finnlands anläßlich dieses Punktes Alarm geschlagen und fordert das Fort Ino 
zurück. Ebenso scharf stehe die kaukasische Frage, und wenn die kaukasische 
Rada, wie die Ukraine, von ausländischen Truppen unterstützt werden würde, 
so stehe Rußland vor neuen Schwierigkeiten. Es gebe Leute, die über die 
unerträgliche Last dieses schwebenden Zustandes zwischen Krieg und Frieden 
klagen und denken, daß es leicht sei, aus der unbestimmten Lage heraus- 
zukommen, man brauche nur die Erfüllung des Brester Vertrages zu fordern. 
„Sie vergessen, daß man zuerst siegen muß und dann erst irgendetwas 
fordern kann.“ Die Regierung habe durch unzählige Radiogramme angefragt, 
welche Grenzen der unabhängige Kaukafus fordere, aber keine Antwort 
erhalten. Dadurch erhalte die Türkei und Deutschland den Vorwand, immer 
weiter vorzudringen. Die geschilderte Lage bestätige die Richtigkeit der bol- 
schewistischen Taktik: „Aus der Erfahrung der Revolution heraus haben wir 
gelernt, daß man die Taktik des schonungslosen Angriffs verfolgen muß, 
wenn dies die objektiven Bedingungen zulassen. Man ist aber gezwungen 
zur Taktik des Abwartens, zur langsamen Sammlung der Kräfte Zuflucht 
zu nehmen, wenn es keine Möglichkeit gibt, eine schonungslose Abwehr 
zu erteilen.“ Die ganzen Bemühungen der Sowjetgewalt müßten jetzt darauf 
konzentriert werden, die Atempause zu verlängern, die Gegensätze unter den 
Imperialisten auszunutzen und die Sowjetgewalt bis zum Eingreifen des 
internationalen Proletariats zu erhalten und zu befestigen. Die jetzige Re- 
gierung habe das Recht auf die Verteidigung des Vaterlandes erobert. Sie 
verteidige nicht die Großmachtstellung Rußlands, nicht nationale Interessen, 
denn die Interessen des Weltsozialismus stunden höher als die nationalen 
Interessen. Wir sind Verteidiger des sozialistischen Vaterlandes. Für die 
Verteidigung brauche man aber eine standhafte Armee, geordnetes Hinter- 
land und feste Ordnung des Verpflegungswesens. (Eine ausführlichere Inhalts- 
angabe der Rede s. in der „Nordd. Allg. Ztg.“ 1918 Nr. 270.) 
15. Mai—4. Juni. (Transkaukasien.) Auflösung der Trans- 
kaukas. Republik, Bildung eines Transkaukas. Staatenbundes (Georgien, 
Armenien, Aserbeidschan), vorläufiger Vertrag mit dem Vierbunde. 
Um die zwischen der Türkei und der Transkaukas. Republik 
infolge des Friedens von Brest-Litowsk bestehenden Differenzen (s. S. 426) 
zu beseitigen, tritt in Batum eine Konferenz zusammen, an der Abgeordnete 
der drei transkaukasischen Gebiete (Georgier, Armenier und Muselmanen) 
teilnehmen. Auch die deutsche Regierung ist vertreten. Dabei ergibt sich 
sofort ein scharfer Meinungsunterschied zwischen den kaukasischen Abgeordneten. 
über die Errichtung des gemeinschaftlichen transkaukasischen Staates, so daß es 
zum Bruch kommt. 
Am 26. lösen sich in Tiflis der transkaukas. Landtag, der der 
Träger der Staatshoheit in der transkaukas. Republik war, und die trans- 
kaukas. Regierung (s. S. 426) auf. Am gleichen Tage tritt unter dem Vorsitz 
des Führers der Mehrheit Dschordania (Soz.) der georgische Landtag 
zusammen und ruft die Unabhängigkeit Georgiens aus. Eine georgische 
Regierung wird gebildet, in der Ramischwili (Soz.) den Vorsitz, der 
ehem. transkaukas. Ministerpräsident Tschenkeli (Soz.) das Aeußere und 
Geortschadse (min. Soz.) den Krieg übernehmen. Sie ist ein Koalitions- 
kabinett, in dem auch Nat.-Demokr. vertreten sind. Die Georgier berufen sich 
darauf, daß sie nicht, wie die Tataren und die Armenier, seinerzeit durch 
die Zaren von Rußland unterworfen wären, sondern daß sie sich freiwillig
	        
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