Rußland. (Mai 26.) 433
26. Mai. Aufstand der Tschecho-Slowaken.
Die in Rußland befindlichen Tschecho-Slowaken (etwa 150000
Mann, zumeist österr. Kriegsgefangene) erhielten im März von den Volks-
kommissaren die Erlaubnis, bewaffnet über Wladiwostok an die franz. Front
abzugehen. Längs der sibirischen Hauptbahnlinie setzten sie sich nachher an
vielen Punkten fest, versuchten u. a., sich der Städte Tscheljabinsk, Pensa,
Rusajewka (nördlich Pensa), Samara und Seysran zu bemächtigen, und
agitierten gegen die Sowjetregierung. Am 26. Mai bricht in Tscheljabinsk
der offene Aufstand aus. Die Sowjetregierung trifft hierauf umfangreiche mili-
tärische Gegenmaßregeln. Am 4. Juni richtet Trotzki einen Aufruf an die an
der Wolga-, Ural= und sibirischen Front stehenden russ. Regimenter, in dem er
die Tschecho-Slowaken als direkte Verbündete der Gegenrevolution und Agenten
der Kapitalisten bezeichnet. Am 7. Juni nimmt der Hauptvollzugsausschuß
der Sowjets einen maxim. Antrag an, mit dem das Kriegskommissariat
aufgefordert wird, innerhalb einer Woche eine zwangsweise Mobilisierung
der Bauern und Arbeiter zu proklamieren. Am 14. ordnet der Rat der
Volkskommissare eine Teilmobilisierung in den östl. Gouvernements an.
Am gleichen Tage verfügt der Rat der Volkskommissare die Auflösung des
tschecho-slowak. Nationalrates in Rußland und die Konfiskation seines ge-
samten Vermögens, da der Nationalrat während seines Wirkens ununter-
brochen Widerstand gegen die Sowjets an den Tag gelegt habe. Die Lage
der Räteregierung ist anfänglich ziemlich schwierig, da sich der gegenrevolu-
tionäre Aufstand auch in Sibirien weiter ausbreitet. In Omsk bildet sich
eine gegenrevolutionäre Regierung, gegen die die russ. Räteregierung
am 12. Juni eine offizielle Kriegserklärung erläßt. (Näheres s. Asien.)
An die Vertreter der Entente hat Tschitscherin, wie am 16. Juni
aus Moskau gemeldet wird, eine Note gerichtet, worin er mitteilt, daß die
schärfsten Maßnahmen zur Unterdrückung des tschechisch-slowak. Aufstandes
getroffen sind. Dies könne nicht als ein feindlicher Akt gegen die Entente
betrachtet werden, denn eine andere Handlungsweise gegenüber den tschech.
Truppen sei für den Rat der Volkskommissare nicht zulässig, da der Rat
strenge Neutralität im Welikriege bewahren wolle.
Ueber die Tätigkeit des tschecho-slowak. Nationalrats in Ruß-
land sind später interessante Dokumente bekanntgeworden. Daraus ergibt
sich, daß zwischen dem Nationalrat und der Entente enge Beziehungen be-
standen, insbesondere zwischen dem Präsidenten des Nationalrats Dr. Maxa
und dem Führer der franz. Militärkommission in Rußland, der ihm an-
gedeutet habe, daß, wenn die Alliierten die Unabhängigkeit der Tschecho-
Slowakei anerkennen sollten, diese eine Erhebung gegen die Sowjetrepublik
im Interesse der Alliierten anzetteln müsse. Die Aktion der Tschecho-Slowaken
in Rußland steht also mit den Selbständigkeitsbestrebungen der Tschecho-
Slowakei in innerem Zusammenhang, und es ist wohl eine Folge davon,
daß die nationalen Bestrebungen der Tschecho-Slowaken auf der Tagung
des interalliierten Obersten Rates in Versailles am 3. Juni (s. S. 261)
offiziell anerkannt wurden. (Ueber diese Vorgänge vgl. die Mitteilungen des
Berliner Berichterstatters des „Daily Herald“ Ph. Price aus Prager Quelle
in der „Frankf. Zig.“ 1920 Nr. 27.)
26. Mai. (Moskau.) Eröffnung des Wirtschaftskongresses.
Auf Einladung des „Obersten Rates der Volkswirtschaft"“, der
von der maxim. Regierung am 18. Dez. 1917 (s. Gesch Kal. 1917 Tl. 2 S.784)
als rein proletarische Organisation eingesetzt wurde, um die Produktion und
Verteilung auf sozialistischer Grundlage zu regeln, tritt ein Kongreß der
Vertreter aller proletarischen ökonomischen Organisationen Allrußlands zu-
Europäischer Geschichtskalender. LIX2. 28