Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

138 Kußland. (Juli 2. 4.) 
republik, die gleichzeitig durch den Aufstand der Tschecho-Slowaken (s. 
S. 433) und der Donkosaken (s. S. 431 f.) in starke Bedrängnis gerät. (S. 
ferner S. 448 ff.) 
2. Juli. (Estland.) Zusammentritt der estl. Ritter= und Land- 
schaft zum ordentl. Landtag in Reval. 
An Kaiser Wilhelm wird ein Treugruß gesandt. Ritterschaftshaupt- 
mann Frhr. v. Dellingshausen erstatiet Bericht über seine Tätigkeit seit 
dem letzten ordentlichen Landtag i. J. 1914. 
Mitte Juli tritt auch der ordentl. Landtag der Livländ. Ritter- 
und Landschaft in Riga zusammen. 
4. Juli. Austausch der Ratifikationsurkunden zu dem Friedens- 
vertrag zwischen Osterreich-Ungarn und der Sowjetrepublik in Berlin. 
4.—10. Juli. (Moskau.) V. allruss. Kongreß der Sopjets. 
Anwesend sind über 1100 Abgeordnete, davon 773 Bolschewiki, 353 Linke 
Soz.-Rev. Trotzki eröffnet die Tagung mit einer Rede über die Notwendig- 
keit einer großen und starken Roten Armee. In der Debatte kommt es zu 
erregten Auseinandersetzungen zwischen den Bolschewiki und den Linken 
Soz.-Rev., wobei sich die Führerin der Linken Soz-Rev. Spiridonowa 
in den heftigsten Ausfällen gegen den Brester Frieden ergeht und die Po- 
litik der Volkskommissare aufs schärfste kritisiert. 
Lenin erwidert in einer langen, sehr wirkungsvollen Rede, worin er 
ausführt, daß das russ. Proletariat und die Bauern, die „nicht vom Hunger 
des Volks profitieren“, die Sowjetregierung unterstützen und jedenfalls „gegen. 
die Wahnsinnigen“ auftreten, die sie in den Krieg treiben und den Brester 
Vertrag zerreißen wollen. Gegen die imperialistischen Feinde will unser 
Volk nicht kämpfen, kann und wird es nicht kämpfen, so sehr sich auch ge- 
wissenlose, von Phrasen verblendete Leute Mühe geben, es in diesen Krieg 
hineinzudrängen. Jawohl, Genossen, wer jetzt direkt oder indirekt, offen oder 
geheim, zum Kriege hetzt, wer gegen die „Schlinge“ von Brest schreit, der 
sieht nicht, daß Kerenski und die Großgrundbesitzer, die Kapitalisten und 
Dorfwucherer den Arbeitern und Bauern Rußlands eine Schlinge um den 
Hals werfen. 99 von 100 russischen Soldaten wissen, welch unerhörte Leiden. 
ein Krieg kostet. Sie wissen, daß unerhörte Anstrengungen nötig wären, um 
den Krieg auf eine neue Grundlage zu stellen. Die losgelassenen Kräfte des 
Imperialismus aber, die auch jetzt noch unter sich kämpfen, sind dem Ab- 
grund schon um einige Schritte näher gekommen, seitdem wir vor drei Mo- 
naten hier unseren letzten Kongreß abgehalten haben. Zwischen dem Sieg 
der Oktoberrevolution bis zum Sieg der internationalen sozialistischen Re- 
volution ist ein weiter Weg. Die Ausbrüche müssen in anderen Ländern 
beginnen. Wir haben während der Verhandlungen von Brest alles Mögliche 
getan, um diese Ausbrüche zu beschleunigen. In die Volksmassen Aufrufe 
zu werfen, die uns direkt wieder in den Krieg hineintreiben, das bedeutet 
nichts anderes, als jeden Boden unter den Füßen verlieren. Die Ge- 
nossin Spiridonowa hat gesagt, die Deutschen hätten uns ein Ultimatum 
überreicht, daß wir ihnen für eine Milliarde Manufakturwaren ausliefern 
sollten. Eine Partei, die ihre aufrichtigsten Vertreter soweit bringt, daß sie 
in einen so entsetzlichen Sumpf von Lug und Trug hineinfallen, eine solche 
Partei muß endgültig zugrunde gehen. Ein solches Betragen ist schlimmer 
als jede Provokation. Eine einzelne Partei kann einen Augenblik zandern, 
kann ihre Richtlinien verlieren, wenn wir aber alle Parteien in Rußland 
betrachten, so ist ein Irrtum nicht möglich; seht nur, was jetzt bei den
	        
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