Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

456 Rußland. (Juli 28. 29.) 
28. Juli. (Moskau.) Dr. Helfferich (s. Tl. 1 S. 245) trifft 
als Vertreter des Deutschen Reiches ein. 
Nach der Ermordung des Grafen Mirbach hat die Geschäfte zunächst 
Geheimrat Dr. Riezler geführt. Zum Schutze der gefährdeten deutschen 
Gesandtschaft hatte die deutsche Regierung den Antrag gestellt, für die Zu- 
kunft die Bewachung einem deutschen Bataillon zu übertragen. Die Sowjet- 
regierung lehnte es jedoch ab, deutsche Soldaten in Uniform auf russ. Gebiet 
zuzulassen, dagegen erklärte sie sich damit einverstanden, daß einige hundert 
deutsche Soldaten in Zivil (deutsche Kriegsgefangene) in der Umgebung des 
Gesandtschaftsgebäudes einquartiert werden. 
28. Juli. (Moskau.) Konferenz der linken Soz.-Rev. 
Nach stürmischen Debatten werden zwei Resolutionen eingebracht, von 
denen die von Frau Bizenko eingebrachte ganz und voll die Taktik des 
Zentralkomitees der Partei, insbesondere auch die Frage der Ermordung 
des Grafen Mirbach billigt und den Kommunisten den offenen Krieg in 
den Räten erklärt. Die zweite von Kalegajew eingebrachte Resolution 
steht auch auf dem Standpunkt des Zentralkomitees der Partei mit dem 
Unterschied, daß terroristische Akte in Zukunft für die Partei als ganz un- 
zulässig erklärt werden. Mit unbedeutender Mehrheit nimmt die Konferenz 
die Resolution Bizenko an. 
28. Juli. (Nischni-Nowgorod.) Eröffnung der ersten soz. 
Messe. Die „wahrhaft russische“ Kaufmannschaft boykottiert sie. 
W. Juli. (Dongebiet.) Vertrag mit dem Astrachangebiet. 
Die Kiewer Zeitung „Kijewskaja Mysl“ berichtet, daß in Rostow die 
offizielle Veröffentlichung des Vertrages zwischen den Regierungen des 
Don-- und des Astrachan-Gebietes erfolgte. Beide Regierungen anerkennen 
gegenseitig die volle Autonomie ihrer Gebiete und verpflichten sich, einander 
zu helfen in der Frage weiterer Angliederungen wirtschaftlich und strategisch 
unbedingt notwendiger Landgebiete. Sie erklären den gemeinsamen Kampf 
gegen den Bolschewismus auf ihrem Gebiet und im Nordkaukasus als die 
Hauptaufgabe der Gegenwart und erstreben die gemeinsame Bildung eines 
neuen föderativen Staatswesens im Süden Rußlands, in dessen 
Bestand als erste vollberechtigte Glieder das Dongebiet und das Astrachan- 
gebiet eintreten. — Ein entsprechender Vertrag wurde nach den „Nowija 
Wjedomosti“ v. 20. Juni auch zwischen den Regierungen des Don= und 
des Kuban-Gebietes abgeschlossen. 
29. Juli. Das Vaterland in Gefahr! 
In der gemeinsamen Sitzung des Hauptvollzugsausschusses des Mos- 
kauer Rates und der Arbeiterorganisationen wird nach Reden Lenins und 
Trotzkis folgende Entschließung angenommen: 1. Das soz. Vaterland befindet 
sich in Gefahr. 2. Die Aufgaben des gegenwärtigen Augenblicks sind: Ab- 
wehr der Tschecho-Slowaken und Zufuhr von Getreide. 3. Unter den Arbeiter- 
massen ist die kräftigste Agitation zur Aufklärung über den Ernst der Lage 
einzuleiten. 4. Gegenüber der Bourgeoisie, die sich überall der Gegen- 
revolution anschließt, ist die Wachsamkeit zu vermehren. Die Sowjetregierung 
muß sich den Rücken decken. Zu diesem Zwecke muß die Bourgeoisie unter 
Kontrolle gestellt und in der Praxis gegen sie der Massenterror durchgeführt 
werden. 5. Allgemeine Losung muß sein: Tod oder Sieg, Masseneinfuhr 
von Brot in die Hauptstädte, Massenausbildung und Massenbewaffnung 
der Arbeiter und Anspannung aller Kräfte zum Kampfe gegen die gegen- 
revolutionäre Bourgeeisie.
	        
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