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abhängigen Gründen bisher nichts zu erreichen vermochte, was als Fest-
legung des durch den großherzigen Akt der beiden verbündeten Monarchen
neugeschaffenen Staatsgebildes betrachtet werden könnte. Diese bedauerliche
Sachlage wird unmöglich auf den bald zusammentretenden Staatsrat bei
seiner Stellungnahme gegenüber der Regierung ohne Einfluß bleiben können.
Die poln. Regierung will selbstredend der Frage nicht vorgreifen, welche
bei den in Betracht kommenden und bis jetzt in Erwägung gezogenen
Lösungen der poln. Frage das Ergebnis der in nächster Zeit stattzufindenden
Besprechungen der beiden Kaisermächte bilden wird. Sie gestattet sich jedoch
zu bemerken, daß sie nur eine solche Lösung als eine den beiderseitigen
Interessen eutsprechende betrachten könnte, welche dem poln. Staate unter
Voraussetzung eines Bündnisses mit den Zentralmächten und einer Militär-
konvention Unabhängigkeit, Integrität des bisherigen Territoriums Kongreß-
polens, eine den strategischen Notwendigkeiten entsprechende Grenzregulierung
gegenüber der Ukraine, territoriale Kompensationen in den ethnographisch
poln. Gebieten, Möglichkeit der Narew—Bober—Nijemen-Linie für den Ver-
lust der vier nördlichen Kreise des Gouvernements Suwallki, schließlich die
Möglichkeit der wirtschaftlichen Entwicklung durch Abschluß eines auch den
Zugang zum Meere (freie Schiffahrt auf der Weichsel) gewährleistenden
Handelsabkommens sichern würde. Die poln. Regierung erlaubt sich der
Ueberzeugung Ausdruck zu geben, daß der auf diese Weise an die Zentral-
mächte angelehnte und in seinen vitalsten Interessen befriedigte poln. Staat
den besten Schutz Mitteleuropas gegen Osten dauernd bieten und die sog.
Grenzregulierungen politisch und militärisch durchaus entbehrlich machen
würde. Warschau, den 29. April 1918. Ministerpräsident Steczkowski. (Die
Denkschrift wird erst Ende Aug. (s. S. 507) der Oeffentlichkeit in ihrem vollen
Wortlaut bekannt.)
12. Juni. Polnische Regierung und Entente.
Eine Mitteilung der poln. Regierung besagt: Laut amtlicher Meldung
der „Agence Havas“ v. 3. Juni wurde in der Zusammenkunft der Minister-
präsidenten Frankreichs, Großbritanniens und Italiens (s. S. 261) folgender
Beschluß gefaßt: „Die Bildung eines einheitlichen, geeinigten und unab-
hängigen poln. Staates mit freiem Zutritt zum Meere bildet eine der Be-
dingungen eines dauerhaften und gerechten Friedens und der Herrschaft
des Rechtes in Europa.“ Ohne auf die Würdigung des Beschlusses an sich
einzugehen, darf die poln. Regierung den Zeitpunkt sowie die Umstände
seiner Entstehung nicht außer acht lassen. Allzu schmerzlich gemahnt er uns
an den Augenblick, als erst, nachdem die russ. Truppen das Königreich Polen
verlassen hatten, sich die zarische Regierung entschloß, an die Verwirklichung
eines jener Rechte heranzutreten, die wir ein Jahrhundert lang umsonst
gefordert hatten. Der Zeitpunkt der Beschlußfassung, nicht der Inhalt der
Resolution verleiht ihr den eigentlichen Charakter. Die poln. Regierung
weiß sich eins mit der ganzen Nation in eihrem beharrlichen Streben nach
Schaffung eines unabhängigen, mit den grundlegenden Bedingungen einer
politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeit aus-
gestatteten Staatswesens und wird sich durch die Versailler Resolution
hierin nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Aller Hindernisse und
Schwierigkeiten ungeachtet, wird sie die Verwirklichung der grundsätzlichen
Bedürfnisse der Nation unentwegt anstreben, welche dieser im Zusammen-
wirken mit den benachbarten Zentralmächten die Lösung der historischen
Aufgaben esm glicht die ihrer im Osten Europas harren. Dies erfordert
eine nüchterne Beurteilung unserer eigenen Interessen, die allein für uns
maßgebend sind.