Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

504 Pelen. (Juni 12.) 
abhängigen Gründen bisher nichts zu erreichen vermochte, was als Fest- 
legung des durch den großherzigen Akt der beiden verbündeten Monarchen 
neugeschaffenen Staatsgebildes betrachtet werden könnte. Diese bedauerliche 
Sachlage wird unmöglich auf den bald zusammentretenden Staatsrat bei 
seiner Stellungnahme gegenüber der Regierung ohne Einfluß bleiben können. 
Die poln. Regierung will selbstredend der Frage nicht vorgreifen, welche 
bei den in Betracht kommenden und bis jetzt in Erwägung gezogenen 
Lösungen der poln. Frage das Ergebnis der in nächster Zeit stattzufindenden 
Besprechungen der beiden Kaisermächte bilden wird. Sie gestattet sich jedoch 
zu bemerken, daß sie nur eine solche Lösung als eine den beiderseitigen 
Interessen eutsprechende betrachten könnte, welche dem poln. Staate unter 
Voraussetzung eines Bündnisses mit den Zentralmächten und einer Militär- 
konvention Unabhängigkeit, Integrität des bisherigen Territoriums Kongreß- 
polens, eine den strategischen Notwendigkeiten entsprechende Grenzregulierung 
gegenüber der Ukraine, territoriale Kompensationen in den ethnographisch 
poln. Gebieten, Möglichkeit der Narew—Bober—Nijemen-Linie für den Ver- 
lust der vier nördlichen Kreise des Gouvernements Suwallki, schließlich die 
Möglichkeit der wirtschaftlichen Entwicklung durch Abschluß eines auch den 
Zugang zum Meere (freie Schiffahrt auf der Weichsel) gewährleistenden 
Handelsabkommens sichern würde. Die poln. Regierung erlaubt sich der 
Ueberzeugung Ausdruck zu geben, daß der auf diese Weise an die Zentral- 
mächte angelehnte und in seinen vitalsten Interessen befriedigte poln. Staat 
den besten Schutz Mitteleuropas gegen Osten dauernd bieten und die sog. 
Grenzregulierungen politisch und militärisch durchaus entbehrlich machen 
würde. Warschau, den 29. April 1918. Ministerpräsident Steczkowski. (Die 
Denkschrift wird erst Ende Aug. (s. S. 507) der Oeffentlichkeit in ihrem vollen 
Wortlaut bekannt.) 
12. Juni. Polnische Regierung und Entente. 
Eine Mitteilung der poln. Regierung besagt: Laut amtlicher Meldung 
der „Agence Havas“ v. 3. Juni wurde in der Zusammenkunft der Minister- 
präsidenten Frankreichs, Großbritanniens und Italiens (s. S. 261) folgender 
Beschluß gefaßt: „Die Bildung eines einheitlichen, geeinigten und unab- 
hängigen poln. Staates mit freiem Zutritt zum Meere bildet eine der Be- 
dingungen eines dauerhaften und gerechten Friedens und der Herrschaft 
des Rechtes in Europa.“ Ohne auf die Würdigung des Beschlusses an sich 
einzugehen, darf die poln. Regierung den Zeitpunkt sowie die Umstände 
seiner Entstehung nicht außer acht lassen. Allzu schmerzlich gemahnt er uns 
an den Augenblick, als erst, nachdem die russ. Truppen das Königreich Polen 
verlassen hatten, sich die zarische Regierung entschloß, an die Verwirklichung 
eines jener Rechte heranzutreten, die wir ein Jahrhundert lang umsonst 
gefordert hatten. Der Zeitpunkt der Beschlußfassung, nicht der Inhalt der 
Resolution verleiht ihr den eigentlichen Charakter. Die poln. Regierung 
weiß sich eins mit der ganzen Nation in eihrem beharrlichen Streben nach 
Schaffung eines unabhängigen, mit den grundlegenden Bedingungen einer 
politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeit aus- 
gestatteten Staatswesens und wird sich durch die Versailler Resolution 
hierin nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Aller Hindernisse und 
Schwierigkeiten ungeachtet, wird sie die Verwirklichung der grundsätzlichen 
Bedürfnisse der Nation unentwegt anstreben, welche dieser im Zusammen- 
wirken mit den benachbarten Zentralmächten die Lösung der historischen 
Aufgaben esm glicht die ihrer im Osten Europas harren. Dies erfordert 
eine nüchterne Beurteilung unserer eigenen Interessen, die allein für uns 
maßgebend sind. 
  
  
  
  
  
 
	        
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