Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

58 Bie äserreichisch-ungarische Mosarchie und die Nachsolgesaaten. (Sept. 14.) 
In der deutschen Oeffentlichkeit wirkt das einseitige Vorgehen 
der österr.-ung. Regierung als eine große Ueberraschung. Die Möglichkeit 
eines Erfolges wird von vornherein sehr pessimistisch beurteilt. Sogar in 
der halbamtlichen Auslassung der „Nordd. Allg. Zig.“ (s. Tl. 1 S. 289) wird 
die Berechtigung dieser Auffassung anerkannt. 
Als Antwort hierauf verbreitet das Wiener „k. k. Tel.-Korr.-Bür.“ 
a#m 17. folgende halbamtliche Meldung: Gegenüber der Bemerkung der 
„Nordd. Allg. Ztg.“, daß sich in mancherlei Aeußerungen Zweifel über den 
Erfolg des Schrittes des Ministers des Aeußern Grafen Burian zeigen, 
betonen die (Wiener) Blätter, daß man auch auf unserer Seite durchaus 
die von nüchterner Beurteilung der Verhältnisse gebotene Zurückhaltung zu 
üben gesonnen ist, und daß wir keine überschwenglichen Hoffnungen nähren. 
Die Blätter drücken jedoch die Meinung aus, daß ja der Erfolg nicht ge- 
rade darin bestehen sollte, daß die feindlichen Regierungen ohne weiteres 
auf den Vorschlag Graf Burians eingehen. Dieser Vorschlag hat, wie aus 
der Note zu erkennen ist, politisch die Bedeutung, daß er die Entente- 
regierungen dazu zwingt, vor ihren Völkern sich darüber zu entscheiden, 
ob sie den von uns vorgeschlagenen Weg beschreiten oder ob sie das Risiko 
der Ablehnung auf sich nehmen wollen. Ein Erfolg ist demnach auf jeden 
Fall sicher. Entweder, daß die vorgeschlagene Aussprache zustande kommt, 
oder daß die feindlichen Regierungen vor ihren Völkern die Verantwortung 
für die Zurückweisung der gebotenen Möglichkeiten übernehmen müssen. 
Die Blätter stellen sodann übereinstimmend gegenüber dem Einwand der 
deutschen Presse, daß die österr.-ung. Demarche kaum auf ein politisches 
Ergebnis rechnen kann, fest, daß der Schritt des Grafen Burian kein 
Friedensangebot, sondern eine Aufforderung zu unverbindlichen Vor- 
besprechungen ist, welche Klarheit darüber schaffen sollen, ob und auf welcher 
Basis überhaupt die Verhandlungen ausgenommen werden könnten. Des- 
halb auch wurde dieser Vorschlag von Oesterreich-Ungarn allein gemacht 
als ein Antrag, der nicht im mindesten mit Parteistellung und den von 
uns zu vertretenden meritorischen Fragen zusammenhängt. Wo unsere 
Truppen im Westen, wie so oft schon an allen Fronten des Welltkrieges 
Schulter an Schulter mit der verbündeten deutschen Armee kämpfen, kann 
wohl am allerletzten davon die Rede sein, daß durch diesen formellen An- 
trag unser Bundesverhältnis berührt werden könnte. Gegenüber dem ferneren 
Einwand, daß der Zeitpunkt nicht günstig gewählt sei, weisen die Blätter 
darauf hin, daß die Entente gerade früher mit Rücksicht auf ihre militärischen 
Rückschläge behauptete, sich nicht auf Unterhandlungen einlassen zu können. 
Der jetzige Moment schließt nun eine derartige Argumentation aus. Die 
Entente behauptet, einen großen Sieg erfochten zu haben, sie müßte daher 
den jetzigen Moment als richtig zugestehen für eventuelle Verhandlungen. 
Hierzu kommt noch, daß der feindliche Angriff zum Stillstand gebracht ist, 
und es wird bald der Moment gekommen sein, wo die Entente keine großen 
Worte mehr über den Erfolg wird gebrauchen können. Der gegenwärtige 
Zeitpunkt muß daher als ein einem Erfolge des Vorschlages durchaus 
günstiger bezeichnet werden. 
Am 17. äußert der Minister des Aeußern Graf Burian gegenüber 
deutschnat. Abg., daß sein Vorschlag seit langem erwogen und keineswegs 
durch die Vorgänge auf den Kriegsschauplätzen in den letzten Monaten 
veranlaßt oder beeinflußt sei. Der Vorschlag sei die folgerichtige Fort- 
setzung der österr.-ung. Friedenspolitik und gründe sich auf die Ueber- 
zeugung, daß trotz gegenteiliger Behauptungen und Kundgebungen alle 
Völker den Frieden ersehnen und daß besonders für die europäischen Völker 
eine friedliche Verständigung besser sei als die Forsetzung des Krieges. Der
	        
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