Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

66 Die ästerreichisch-ungarischt Monartchie und die Uachfolgestaaten. (Okt. 11.—15.) 
Grundlage über die Umwandlung Oesterreichs in eine Föderation nationaler 
Gemeinwesen zu verhandeln. Lehnen die Vertreter der slaw. Nationen diese 
Verhandlungen ab, so erklären wir, daß sich das deutsche Volk mit allen 
Mitteln dagegen wehren wird, daß seine staatsrechtliche Stellung oder die 
staatsrechtliche Stellung eines seiner Teile über seine Köpfe durch Slaats- 
gewalt oder das Schwert eines fremden Eroberers bestimmt wird. Jedem 
solchen Versuch gegenüber wird das deutiche Volk sein unbeschränktes Selbst- 
bestimmungsrecht fordern und es mit allen Mitteln verteidigen. 
Von tschech. und südslaw. Seite wird die deutscherieits angeregte 
Verständigung abgelehnt, da die soz. Entschließung von vornherein für die 
künftigen Nationalstaaten die Grenzen Oesterreichs als unübersteigbaren 
Rahmen festsetzt, während sie die Friedenskonferenz als einzig mögliches 
Forum für die Entscheidung betrachten. 
Am gleichen Tage erfolgt auch innerhalb der Polenklub Parteien 
ein solcher Zusammenschluß, indem auch die Konf. der jungsten Erklärung der 
andern Klubparteien für ein Großpolen (s. S. 63) beitreten, und die Bildung 
eines poln. Nationalrats in Krakau einstimmig vom Klub beschlossen wird. 
Am 6. hat im Sinne des soz. Antrages auf Zusammenschluß aller 
Deutschen Oesterreichs die Vereinigung der deutschböhmischen Abg. be- 
schlossen, einen Ausschuß aus den Vertretern aller deutsch-böhm. Parteien 
und Herrenhausgruppen zur Schaffung eines selbständigen Deutschböhmens 
auf Grund des nationalen Selbstbestimmungsrechtes einzusetzen. 
11. Okt. (Krakau.) Bildung eines poln. Nationalrates. 
Die Vollversammlung der poln. Abg. beschließt die Auflösung des 
Polenklubs und Schaffung eines Nationalrates als oberste nationale Instanz. 
Sie beschließt ferner, nicht mehr ins Wiener Parlament zurückzukehren. 
12. Okt. Kaiser Karl empfängt Vertreter der Reichsrats- 
parteien zur Besprechung der innerpolitischen Lage. 
Angesichts der Bewegung, die unter der Parole des Selbstbestimmungs- 
rechts alle österr Nationen ergriffen hat, hat der Kaiser das Bedürfnis, sich 
bei den Vertretern der einzelnen Parteien über die Lage und die Möglich- 
keit ihrer Entwirrung zu unterrichten. Der Empfang zeitigt jedoch kein Er- 
gebnis, da die Tschechen, die Südflawen und, in gemäßigterer Form, auch 
die Polen dem Kaiser gegenüber bei der Ablehnung des geplanten Kon- 
zentrationskabinetts, das aus Vertretern der einzelnen Nationen bestehen 
und den Uebergang zu dem neuen Gesamtstaate, der die neu zu errichtenden 
Nationalstaaten umfaßt, vorbereiten soll, und bei der Forderung, ihre 
Nationalstaaten selbständig zu errichten, bevor sie in Unterhandlungen über 
die künftige Zusammenfassung dieser Staaten und der übrigen Gebiete zu 
einem neuen Oesterreich einträten, beharren. 
15. Okt. (Osterr. Delegation.) Vollsitzung. 
Die tschech. und die südflaw. Delegierten überreichen eine Inter- 
pellation über die Stellungnahme der tschech--slowak. Nation und der Süd- 
slawen zu den Waffenstillstands= und Friedensverhandlungen sowie die 
Ueberlassung dieser Verhandlungen an Vertreter der Nationen. Die Polen 
überreichen einen Antrag mit der Erklärung, daß die Gesamtheit der poln. 
Reichstagsabg. die am 2. Okt. 1918 im Abg.-Hause (s. S. 63) durch alle 
poln. Parteien abgegebene Erklärung als einzige politische Grundlage für 
die poln. Nation in der Monarchie anerkenne und sich von diesem Augen- 
blick an als Zugehörige des freien, vereinten und unabhängigen poln. 
Staates betrachte. Die Parteimitglieder fordern die Regierung auf, un-
	        
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