Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

2. Zur Schuldfratze am Ausbruch des Welttrieges. 773 
sind, daß aber, wenn durch den Verlauf der Ereignisse beide Mächte zu 
gemeinsamem aktiven Handeln geführt werden, sie sich an die von den 
Generalstäben ausgearbeiteten technischen Abmachungen halten werden. 
Doumergue fügte hinzu, er erinnere sich nicht, ob Obiges in eine be- 
stimmte Formel gefaßt sei, verspricht aber, im Archiv des Ministeriums 
darüber nachzuforschen und die von uns ausgesprochenen Wünsche im Auge 
zu behalten. Bisher hatte ich nicht die Möglichkeit, das Gespräch über diesen 
Gegenstand mit Poincaré zu erneuern. Er ist noch in Aix. Aber ich werde 
mich bemühen, ihn sofort nach seiner Rückkehr zu sehen und über den In- 
halt Ihres Briefes mit ihm zu reden. 
Die „Ditsch. Allg. Ztg.“ bemerkt dazu: Der Inhalt des russ. Erlasses 
v. 20. März/2. April wurde, anscheinend von Paris aus, auch nach London 
mitgeteilt. Er fand hier eine günstige Aufnahme. Sir Arthur Nicolson sprach 
sich dahin aus, daß die Entente mit Frankreich und Rußland nach wie 
vor die Grundlage der engl. Politik bilde und daß das Londoner Kabinett 
selbst im Falle eines Regierungswechsels auch in Zukunft in engstem Ein- 
vernehmen mit diesen beiden Mächten handeln werde. Der Pariser Besuch 
des Königs sei aber nicht der richtige Zeitpunkt, um die Frage der Um- 
wandlung der Entente in ein formelles Bündnis anzuregen. Jedenfalls 
müßten zunächst noch mehrere zwischen Rußland und England schwebende 
Fragen erledigt werden. Der Unterstaatssekretär hat damals franz. und 
russ. Diplomaten erzählt, daß vor einiger Zeit Lord Curzon als der even- 
tuelle Minister des Aeußern in einem unionistischen Kabinett ihn auf- 
gesucht hätte, um sich mit ihm über die allgemeinen Grundlagen der eng- 
lischen äußeren Politik auszusprechen. Curzon habe zugegeben, daß er, 
obwohl anfangs ein Gegner des engl.-russ. Abkommens von 1907, seinen 
Standpunkt geändert habe und ein Zusammengehen mit Frankreich und 
Rußland für die richtige Orientierung der engl. Politik halte. Er glaube 
sogar, daß nach der Revision einzelner Punkte des Abkommens von 1907 
die Umwandlung der Entente in eine Allianz im Bereich der praktischen 
Möglichkeit liege. Er habe jedoch hinzugefügt: „Aber welcher engl. Minister 
würde heute die Verantwortung für einen solchen Schritt auf sich nehmen?“ 
Bemerkenswert ist, daß der franz. Minister Doumergue über die Einzelheiten 
der zwischen England und Frankreich getroffenen militärischen Abmachungen 
nur mangelhaft unterrichtet war. Dies erklärt sich daraus, daß letzere un- 
mittelbar von den beiderseitigen militärischen Behörden ausgearbeitet worden 
sind und vor Kriegsausbruch nur die allgemeinen Grundlagen, nicht aber 
der Text den diplomatischen Kreisen Frankreichs und Englands bekannt 
waren. Anläßlich des Projektes, diese Vereinbarungen dem Petersburger 
Kabinett mitzuteilen, hat der franz. Botschafter in London, P. Cambon, 
sogar bemerkt, daß mit dem Widerstand der politischen Kreise in Frankreich 
und England zu rechnen sein werde, und daß daher diese Mitteilung nicht 
auf diplomatischem Wege, sondern direkt von seiten des franz. und engl. 
an den russ. Generalstab stattzufinden haben würde. Augenscheinlich teilte 
Grey diesen Standpunkt, um jeden Anschein zu vermeiden, daß eine politische 
Vereinbarung oder Allianz bestehe. Am 21. April traf der König von 
England, begleitet von Sir E. Grey, in Paris ein. 
Die „Dtsch. Allg. Ztg.“ v. 20. Dez. 1918 (Nr. 647) veröffentlicht fol- 
gende zwei Berichte des russ. Botschafters in London Grafen Bencken- 
dorff über den Beginn der Verhandlungen in London: 
Benckendorff an Ssasonow. 
London, den (2) Mai 1914. 
Bei meiner Rückkehr von Paris nach London teilt mir Cambon mit, 
Grey habe ihm von neuem das bestätigt, was er in seinem eigenen Namen
	        
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