4. Verschiedenes. 817
würde ein gut beratenes Rußland keinen feindlichen Schritt gegen Deutsch-
land unternehmen, wohl aber würde es durch Besitzergreifungen entweder
auf der Balkan-Halbinsel oder in Kleinasien den Sultan nötigen, Vorschlägen
zuzustimmen, die Rußland zum Herrn des Bosporus und der Dardanellen
machen würden. Von einem solchen Schritt würde es nur dann Abstand
nehmen, wenn es mit einem übermächtigen Widerstand zu rechnen hätte.
Italien und England allein wären nicht hinreichend, es von seinem Vor-
haben abzubringen, und es ist sehr zweifelhaft, ob die englische öffentliche
Meinung mit JZtalien als einzigem Bundesgenossen einem Kriege für die
Türkei zustimmen würde. Alles würde deshalb von der Haltung Oester-
reichs abhängen. Wenn dieses des deutschen Beistandes nicht sicher wäre,
würde es sich nicht stark genug fühlen, um einen Krieg mit Rußland mit
darauffolgendem Einfall über seine nordöstliche Grenze, wo Italien und
England ihm kaum beistehen könnten, zu wagen. In diesem Falle würde
es sich ruhig verhalten und Kompensationen auf türkischem Gebiet vor-
ziehen. Eine solche Politik hat es in früheren Jahren begünstigt, und eben
jetzt wieder wird berichtet — ich weiß nicht, mit welchem Recht —, daß
der Kaiser von Oesterreich persönlich ihr zuneigt. Die entgegengesetzte und
kühnere Haltung würde Oesterreich nur dann einnehmen, wenn es sich des
äußersten Beistandes Deutschlands sicher fühlte.
Als man uns zu einem Einvernehmen über die Sir Edward Mallet
übergebenen acht Punkte einlud, mußten wir uns ernstliche Bedenken dar-
über machen, daß gerade die allerwichtigste Frage für uns in den acht
Punkten nicht berührt war, nämlich die voraussichtliche Haltung Deutsch-
lands. Wenn Oesterreich auf Deutschlands Unterstützung in einem solchen
Kriege rechnen könnte, würde es ihm möglich sein, die in den acht Punkten
vorgezeichnete Politik, der England beitreten soll, völlig durchzuführen. In
jedem anderen Falle würde sich England durch seinen Beitritt auf eine im
voraus zum Scheitern verurteilte Politik festlegen. Wir fragten uns dann,
welcher Grund dafür spräche, daß ein in einen ernsten Kampf mit Frank-
reich verwickeltes Deutschland nicht eine neutrale oder sogar eine günstige
Haltung gegenüber Rußland einnehmen sollte. Gerade um diese Zeit kamen
die Nachrichten, nach denen die Thronbesteigung eines Prinzen, der, wie
man glaubte, für Rußland günstiger und England abgeneigter sein würde,
als der gegenwäriige Erbe dieses Thrones, früher eintreten konnte, als zu
erwarten war.
Ew. Durchlaucht haben durch die große Offenheit, mit der Sie mir
die wirkliche Sachlage geschildert haben, meine Befürchtungen zerstreut.
Einmal haben Sie mir Einblick in den Vertrag zwischen Deutschland und
Oesterreich gewährt, der bestimmt, daß unter keinen Umständen die Existenz
Oesterreichs durch Widerstand gegen ungesetzliche russ. Machenschaften ge-
fährdet werden dürfe. Dann haben Sie Sir Edward Mallet von seiten des
Kaisers dessen moralische Billigung jedes Einvernehmens übermittelt, welches
zwischen Oesterreich. Jtalien und England auf Grund der drei uns unter-
breiteten Punkte zustande käme. Und endlich haben Sie mir überzeugend
auseinandergesetzt, daß der Kurs Deutschlands durch Erwägungen des natio-
nalen Interesses, wie es von der Gesamtheit des Volkes und nicht von
persönlichen Voreingenommenheiten des regierenden Herrn verstanden wird,
vorgeschrieben sein muß.
Ich glaube, daß das Einvernehmen, das zwischen England und den
beiden anderen Staaten gegenwärtig in Vorbereitung ist, in vollem Ein-
klang mit der von ihm erklärten Politik steht und loyal von ihm beobachtet
werden wird. Die Gruppierung der Mächte, die das Werk des letzten
Jahres war, wird ein wirklicher Damm sein gegen ein aggressives Vorgehen
Enuropäischer Geschichtskalender. LIX4. 52