Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

86 Nie alerreigist nugarisge ITIITIIIII (Okt. 28.) 
Madeyski ihrer Aemter enthoben. An ihrer Stelle werden Geheimrat 
Dr. Paul v. Vittorelli zum Justizminister, Sektionschef Dr. Richard Edler 
v. Hampe zum Unterrichtsminister, Universitätsprof. Dr. Ignaz Seipel 
zum Minister für soziale Fürsorge, der Prof. an der Technischen Hochschule 
Wien Dr. Joseph Redlich zum Finanzminister ernannt und der Sektions- 
chef Dr. Friedrich Frhr. Lehne v. Lehnsheim mit der Leitung des Landes- 
verteidigungsministeriums betraut. Die übrigen Mitglieder des Kabinetts 
Hussarek behalten ihre Portefeuilles. 
· Das Kabinett Hussarek war durch die politische Entwicklung unmöglich 
geworden. Als Aufgabe des neuen Kabinetts bezeichnet man in Wiener 
politischen Kreisen die Liquidation des alten Oesterreich und die Begrün— 
dung des neuen österr. Völkerstaats. Da die deutschen Parteien die Ent— 
sendung von Vertretern in das Kabinett abgelehnt hatten, wurde ein reines 
Beamtenministerium gebildet. Der Wirkungskreis des Ministeriums ist an— 
gesichts der fortschreitenden inneren Auflösung nur mehr gering. 
28. Okt. (Böhmen.) Ausrufung des Tschecho-slowak. Staates. 
Als die Note des Grafen Andrassy an die Ver. St. v. 27. (s. S. 82) 
in Prag bekannt wird, wonach die österr.-ung. Regierung den tschecho-slowak. 
Staat bedingungslos anerkennt, vollzieht sich dort der lange vorbereitete 
Umsturz, ohne irgendwelchem Widerstande zu begegnen. Der tschecho- 
slowak. Nationalausschuß (Vorsitzender Svehla) begibt sich vollzählig 
in die Statthalterei und erklärt dem anwesenden Vizepräsidenten, daß der 
Nationalausschuß mit dem heutigen Tage die Regierung übernehme, daß 
er aber die bisherigen Gesetze in Kraft lassen werde, bis die Verfassung- 
gebende Versammlung neue Gesetze schaffe oder bis die aus der Fremde 
zurückkehrenden tschecho-slowak. Regierungsmitglieder andere verfügten. Die 
Beamten geloben durch Handschlag, sich in den Dienst des Nationalausschusses 
zu stellen. Statthalter Graf Coudenhove wird auf eigenes Ansuchen bis auf 
weiteres beurlaubt. Auf der Prager Burg wird eine tschech. Fahne gehißt, 
zum Zeichen, daß die Burg in die Verwaltung des Nationalausschusses 
übergegangen ist. Von den Staatsgebäuden werden die Wappen und Kaiser- 
adler herabgenommen und durch das böhm. Löwenwappen ersetzt. Offiziere 
und Soldaten müssen die Kokarden mit der sflaw. Trikolore vertauschen. 
Die deutschen Firmenschilder und Inschriften werden entfernt. Post und 
Telegraph gehen anstandslos in die Hände der neuen Regierung über. Die 
Ruhe wird nirgends gestört und die Ordnung von Polizisten und Mit- 
gliedern der Sokolvereine aufrechterhalten. Die Frage der Regierungsform 
bleibt zunächst in der Schwebe, bis die tschech.-slowak. Nationalregierung 
in Paris dazu Stellung genommen hat. An die Presse ergehen Weisungen, 
daß Angriffe gegen die Dynastie Habsburg unterbleiben sollen. Auf der 
Straße wird Masaryk als Präsident proklamiert. 
Am gleichen Tage noch erläßt der tschecho-slowakische National- 
ausschuß folgende Botschaft: Tschecho-slowakisches Volkl Dein uralter Traum 
ist Wirklichkeit geworden! Der tschecho-slowakische Staat trat am heutigen 
Tage in die Reihe der selbständigen Kulturstaaten der Welt. Der National- 
ausschuß, vom Vertrauen des gesamten tschecho-slowakischen Volkes getragen, 
hat als einziger berechtigter und verantwortlicher Faktor die Verwaltung 
deines Staates in seine Hand genommen. Tschecho-slowakisches Volkl Was 
du unternimmst, unternimmst du von diesem Augenblick an als ein neues 
freies Mitglied der großen Familie der selbständigen freien Nationen. Durch 
neue Taten beginnt in diesem Augenblick deine neue und so Gott will 
ruhmvolle Geschichte. Du wirst nicht die Erwartung der ganzen Kulturwelt 
enttäuschen, die mit Segenswünschen auf den Lippen deiner glorreichen Ge-
	        
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