Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 61. 193 
übrigen Elemente vorausgesetzt, gleichwohl die Erhebung der Anklage nicht unmöglich 
sein. Das Verfahren wird sich in diesem Falle eben nach den Vorschriften richten 
müssen, welche das Disziplinargesetz für die nicht richterlichen Beamten (unten Art. 98) 
aufgestellt hat, und wo diese Vorschriften nicht ausreichen, werden, wie es schon jetzt im 
Preußischen Disziplinarverfahren geschieht, aushilfsweise die Bestimmungen der Reichs- 
strafprozeßordnung Anwendung finden. Dies folgt daraus, daß das auf Art. 61 ba- 
sirende Verfahren kein eigentliches Kriminalverfahren, sondern ein Disziplinarverfahren ist. 
Wenn Art. 61 lediglich kriminellen Charakter hätte, so wären, obgleich sowohl 
das Allgemeine Landrecht als auch das Strafgesetzbuch vom 14. April 1851 den Hoch- 
verrath und die Bestechung mit schwerer Strafe bedroht haben, in Ermangelung des 
in Abs. 2 vorbehaltenen besonderen Gesetzes die Minister, also gerade diejenigen Männer 
straffrei gewesen, welche die Gesetze an erster Stelle zu beobachten verpflichtet sind, und 
deren Verbrechen für den Staat die gewichtigsten Folgen haben können. Das ist na- 
türlich nicht der Fall gewesen, vielmehr würden die Minister, wenn sie sich des Ver- 
rathes, der Bestechung schuldig gemacht hätten, nach den allgemeinen Strafgesetzen 
abgeurtheilt worden sein. Schon hieraus ergiebt sich der disziplinare Charakter des 
Art. 61, jedenfalls der beiden genannten Delikte. Seit der Geltung des Reichsstrafgesetz- 
buches — für den früheren Norddeutschen Bund seit dem 1. Januar 1870 — sind die 
Materien des Hoch- und Landesverrathes und der Bestechung reichsgesetzlich geregelt 
(§§ 80 bis 93, 331, 332), und die Aburtheilung dieser Delikte erfolgt seit dem 1. Oktober 
1879 in den prozessualischen Formen der Reichsstrafprozeßordnung durch die im Ge- 
richtsverfassungsgesetze bestimmten ordentlichen Gerichte, unter Erhebung der Anklage 
durch die Staatsanwaltschaft. Bei der durchgreifenden Geltung des Satzes „ne bis in 
idem“ ist dadurch ein kriminelles Verfahren auf Grund des Art. 61 unmöglich ge- 
macht, es bleibt also übrig nur das Disziplinarverfahren. Etwas anders steht es mit 
der Verfassungsverletzung. Diese gehört nicht zu den Materien, welche durch die Reichs- 
gesetzgebung, insbesondere das Reichsstrafgesetzbuch, geregelt sind, die Landesgesetzgebung 
kann hier also selbstständig vorgehen, darf aber nur Gefängniß bis zu zwei Jahren, 
Haft, Geldstrafe, Einziehung einzelner Gegenstände und die Entziehung öffentlicher 
Aemter androhen (Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch §§ 1, 5). Wollte die Landes- 
gesetzgebung die Verfassungsverletzung strafrechtlich ahnden, so würde auch dieses Delikt 
vor die ordentlichen Gerichte gehören, könnte kein besonderer Gerichtshof zur Entschei- 
dung über die Ministeranklage und kein besonderes Verfahren bestimmt werden;, 
würde die Initiative der Staatsanwaltschaft, also einer von den Ministern ab- 
hängigen Behörde gebühren, das Anklagerecht des Landtages hinfällig sein. Soll 
das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit thatsächliche Realisirung finden, so muß sich 
also die strafrechtliche Verantwortlichkeit in eine disziplinare verwandeln, der gemeine 
Fall des Strafrechts hinter dem staatsrechtlichen Fall des Disziplinarstrafrechts zu- 
rücktreten. Das Disziplinarstrafrecht kennt keine peinliche Strafe, die äußerste Maß- 
regel, welche es verhängt, ist die Entfernung aus dem Staatsdienste unter Verlust der 
Pensionsberechtigung; koinzidirt ein durch Mißbrauch des Amtes begangenes gemeines 
oder Amtsdelikt, so hat die Aburtheilung dieses Deliktes durch das zuständige ordentliche 
Strafgericht zu erfolgen. So führt diese Betrachtung zurück auf den obigen Ausspruch, 
daß an die Stelle des gegen die Minister unmöglichen gewöhnlichen Disziplinarverfahrens 
das Anklagerecht der Volksvertretung tritt. 
Wann Preußen endlich einmal ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz erhalten wird, 
läßt sich zur Zeit gar nicht absehen. Die Wichtigkeit, ja Nothwendigkeit des Gesetzes 
für Preußens Verfassung bedarf keiner Darlegung. Dem Monarchen selbst, der ja auch 
auf die Verfassung beeidigt ist, aber seine Minister nicht immer strenge kontroliren kann, 
muß es erwünscht sein, diese Garantie für die Verfassungs= und Gesetzestreue seiner ersten 
und vornehmsten Rathgeber und Gehilfen zu haben, während gegenwärtig ein Minister, 
der sich gegen die Verfassung, gegen das Strafgesetz vergeht, allerdings auch sein Amt 
durch Engasing oder von Rechtswegen verlieren kann, aber die Pensionsberechtigung 
nicht verliert. Auch den Ministern selbst, wenn sie sich als echt konstitutionelle Beamte 
fühlen, wird das Gesetz willkommen sein, wofern es nur, was zwar schwierig, aber nicht 
unmöglich ist, seine Aufgabe voll löst. Das Ministerverantwortlichkeitsgesetz muß, wie 
Blunschli einmal sagt, dem Mißbrauch der Gewalt eine starke Schranke ziehen und 
zugleich den vollen Gebrauch der Autorität im Interesse des Staates schützen. Es muß 
die Minister gegen ungehörige Zumuthungen einflußreicher Personen und Klassen decken 
und zugleich im Verhältnisse zu ihren Untergebenen stärken und ihren Anordnungen 
Nachdruck verschaffen. Das Verfassungsrecht soll in demselben eine wirksame Garantie 
Schwary, Preußische Verfassungsurkunde-. 13
	        
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