114 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
dem Verbündeten des Königs von Preußen. Wenn der König in einer
Wallung großmüthiger Laune die neue polnische Verfassung gebilligt hatte,
so mußte doch bald der Augenblick kommen da er seinen Irrthum einsah
und erkannte, daß die Politik der Hofburg dem preußischen Interesse in
Polen ebenso feindlich war wie in Deutschland.
So stand es: die Verfassung des heiligen Reichs unheilbar zerrüttet,
jede Möglichkeit einer Reform von innen heraus verloren, die beiden
führenden Mächte scheinbar verbündet, aber durch alten Groll und streitige
Interessen schärfer denn jemals geschieden. In solcher Lage wurde Deutsch-
land von jener elementarischen Bewegung berührt, die das alte Frankreich
in seinen Tiefen erschütterte. Goethe hat uns geschildert, wie dies un-
schuldige, für jede Großthat des Auslands neidlos empfängliche Geschlecht
aufjubelte, „als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob, als man
hörte vom Rechte des Menschen, das Allen gemein sei"“. Der frohe Glaube
an den unendlichen Fortschritt der Menschheit, dieser Lieblingsgedanke des
philosophischen Jahrhunderts, schien jetzt Recht zu behalten, da „das Hoöchste,
was der Mensch sich denkt, als nah und erreichbar sich zeigte“. Der
ästhetische Freiheitsdrang der jungen Dichter berauschte sich schon längst an
dem Ideale der freien Persönlichkeit, die alles Zwanges ledig allein der
Stimme des eigenen Herzens folgen sollte. Genialisches Belieben rüttelte
an jeder überlieferten Sitte, selbst an dem Bande der häuslichen Treue;
Ehebruch und leichtfertige Scheidung nahmen in den Kreisen der Schön-
geister bedenklich überhand, durften auf die lächelnde Nachsicht aller freien
Köpfe zählen. Und nun, seit der Nacht des vierten August, erschien auch
die verhaßte Zwangsanstalt des Staates nur noch wie ein Gebilde mensch-
licher Willkür, wie weicher Thon, den der Wille freier Männer jederzeit
in neue Formen kneten konnte. Die Künstlersehnsucht nach Freiheit vom
Staate sah ihre liebsten Träume überschwänglich erfüllt durch die Erklä-
rung der Menschenrechte; nach der Freiheit im Staate zu suchen, nach
den Pflichten zu fragen, welche den Bürger an das Gemeinwesen binden,
lag der ästhetischen Weltanschauung dieses Geschlechts fern. Die einzige
der bestehenden politischen Einrichtungen, welche in den literarischen Kreisen
leidenschaftlichen Unwillen erregte, war die rechtliche Ungleichheit der Stände;
sie ward um so bitterer empfunden, da sie in dem freien geselligen Ver-
kehre der gebildeten Klassen thatsächlich längst überwunden war. Welches
Entzücken nun, da Frankreich die Gleichheit Alles dessen was Menschen-
angesicht trägt verkündigte, da die Weissagungen Rousseau's, der wie kein
anderer Franzose dem schwärmerischen Idealismus der deutschen Jugend
zum Herzen sprach, sich zu verwirklichen schienen. Alle Herzensneigungen
der Zeit, der edle Drang nach Anerkennung der Menschenwürde und der
himmelstürmende Trotz des souveränen Ich, fanden sich befriedigt durch
den vermessenen Trugschluß des Genfer Philosophen, daß im Zustande
der vollkommenen Gleichheit jeder Mensch nur sich selber gehorche.