Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

198 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
für einen subjectiven Dichter hielten. Beide Dichter verbanden mit der 
traumgängerischen Sicherheit des Genius die dem gesammten Zeitalter 
eigenthümliche klare Bewußtheit des Denkens, sie liebten, sich und Anderen 
Rechenschaft zu geben von den Gesetzen ihrer Kunst. Beide suchten die 
große Aufgabe der Zeit nicht in der ästhetischen Cultur allein; als Staats- 
mann, Naturforscher und Psycholog wirkte der Eine, als Historiker und 
Philosoph der Andere für die Vertiefung und Läuterung einer allseitigen 
Bildung. Beide fühlten sich eins mit ihrem Volke; sie ahnten es wohl, 
daß ihre Werke dereinst noch auf fremdem Boden Frucht bringen sollten, 
doch sie wußten auch, daß sie dem deutschen Leben ihre eigenste Kraft ver- 
dankten und das volle, innige, unwillkürliche Verständniß nur da finden 
konnten wo deutsche Herzen schlugen: „Im Vaterlande schreibe was dir 
gefällt! Da sind Liebesbande, da ist deine Welt!“ 
Es gereicht aber der deutschen Rechtschaffenheit zur Ehre, daß selbst 
in diesem Zeitalter der ästhetischen Weltanschauung Schiller in der Gunst 
des Volkes höher stieg als sein größerer Freund. Der Durchschnitt der 
Menschen erhebt sich nicht über den stofflichen Reiz der Dichtung, darum 
darf er auch die einseitig moralische Schätzung der Kunst nicht ganz auf- 
geben. Einem gesunden Volke mußte Posa's edle Schwärmerei und die 
Hochherzigkeit Max Piccolomini's theurer sein als das lose Treiben der 
Philinen und Mariannen. Nur reiche Gemüther blickten dem tiefen 
Strome der späteren Goethischen Dichtung bis auf den Grund, nur den 
Lebenskundigen ging das geheimnißvolle Leben seiner Gestalten auf, nur 
sinnige Naturen erkannten in seinen proteischen Wandlungen den immer 
sich selbst getreuen Genius wieder. Ueber diese Höchstgebildeten der Nation 
gewannen Goethe's Leben und Werke nach und nach eine stille unwider- 
stehliche Gewalt, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt nur immer mächtiger 
wurde; es ist sein Verdienst, daß Wilhelm Humboldt sagen konnte, nirgend- 
wo sonst werde das eigentliche Wesen der Poesie so tief verstanden wie 
in Deutschland. Aus Luther's Tischreden hatten die Deutschen einst er- 
fahren, was es heiße ganz in Gott zu leben, in jeder einfachen Schickung 
der vierundzwanzig Tagesstunden die Allmacht und Liebe des Schöpfers 
zu empfinden. Jetzt verkörperte sich die neue Humanität in einem gleich 
mächtigen und ursprünglichen Menschendasein; aus Goethe's Leben lernte 
der frohe Kreis der dankbar Verstehenden, wie dem Künstlergeiste jede 
Erfahrung zum Bilde wird, wie die freieste Bildung zur Natur zurückkehrt, 
wie vornehmer Stolz mit Herzenseinfalt und demokratischer Menschenliebe 
sich verträgt. Schiller's Wirksamkeit ging, wie es das Recht des Drama- 
tikers ist, mehr in die Breite; ihm gehörte das Herz der schwärmerischen 
Jugend; sein sittlicher Ernst packte die Gewissen; sein freudiger Glaube an 
den Adel der Menschheit war Allen ebenso verständlich wie die funkelnde 
Pracht seiner nichts verhüllenden Sprache. Es ist sein Verdienst, daß 
die Freude an der neuen Bildung sich in weiten Kreisen verbreitete — so
	        
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