Scheitern des Norddeutschen Bundes. 241
Durfte Preußen nach allen den kläglichen Demüthigungen der jüngsten
Monate sich's auch noch bieten lassen, daß Napoleon ihm verbot die letzten
Trümmer Deutschlands vor der Fremdherrschaft zu bewahren? Sollte man
zuwarten bis der Treulose, der die Monarchie mit seinen Heeren umzingelt
hielt und in seinen Rheinfestungen unablässig rüstete, auf der Spitze seines
Degens dem Könige einen neuen noch schimpflicheren Unterwerfungsvertrag
entgegenreichte? „Napoleon greift uns an das Herz,“ so schrieb General
Rüchel, „er bedroht Sachsen und Hessen wider die heiligsten seiner Ver—
sicherungen.“ Nur das Schwert bot noch einen Ausweg aus der völlig
unhaltbaren Lage. Schon seit dem Winter ahnten die einsichtigen Pa—
trioten am Hofe, daß der Entscheidungskampf unaufhaltsam herannahe.
Im Vorgefühle der nahen Katastrophe versuchte der Finanzminister Stein
während des Frühjahrs den König von dem Einfluß seiner subalternen
Rathgeber zu befreien. Er entwarf eine Denkschrift über die Gebrechen
der Staatsregierung, das erste Programm seiner großen Reformpolitik: da
Preußen keine Staatsverfassung hat und die oberste Gewalt nicht zwischen
dem Oberhaupt und den Stellvertretern der Nation getheilt ist, so scheint
die Regierungsverfassung um so wichtiger; die Gewalt ist der Raub einer
untergeordneten Influenz geworden; darum Aufhebung der geheimen
Cabinetsregierung, und statt ihrer ein Staatsrath und fünf Fachminister,
in unmittelbarem Verkehre mit dem Könige; dazu neue kräftige Männer,
denn man muß die Personen ändern, wenn man Maßregeln ändern will.
Auch Blücher schalt mit seinem kühnen Freimuth laut wider die Rotte
niederer Faulthiere, die den edlen König umlagere. Im September, kurz
bevor die Würfel fielen, brachten dann mehrere Prinzen des königlichen
Hauses, Stein, Blücher und Rüchel eine gemeinsame Vorstellung vor
den Thron: sie sagten dem Könige „was ganz Preußen, ganz Deutsch-
land und Europa weiß"“, beschworen ihn, Haugwitz, Beyme und Lombard
zu entlassen. Wie tief mußte das feste Gefüge des alten Absolutismus
erschüttert sein, wenn königliche Prinzen einen solchen Schritt wagen
durften! Friedrich Wilhelm aber war nicht gesonnen das Ansehen seiner
Krone gefährden zu lassen, er nannte das Unterfangen eine Meuterei,
gab den Bittenden einen ungnädigen Bescheid. So blieben denn die alte
und die neue Zeit in den entscheidenden Aemtern unvermittelt neben
einander: im Heere stand der Generalquartiermeister Scharnhorst neben
dem Oberfeldherrn, dem Herzog von Braunschweig, im Ministerium saß
Stein neben Haugwitz, im Cabinet trieb Lombard sein Wesen, während
Hardenberg dem Monarchen vertraulichen Rath ertheilte. Unter solcher
Leitung nahm die unförmliche alte Monarchie den Kampf auf wider den
Gewaltigen, von dem die Franzosen mit scheuer Bewunderung sagten:
er weiß Alles, er will Alles, er kann Alles!
Eine neue Verrätherei Napoleon's führte endlich den Ausbruch des
unvermeidlichen Krieges herbei. Wie oft und feierlich hatte Frankreich
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 16