Umschlag der Volksstimmung. 253
von 1805 nie gesehen; und ganz anders als die gedankenlose Neugierde
der Wiener erschien auch die würdige Haltung der großen Mehrheit des
Berliner Volkes beim Einzuge Napoleon's. So hatte noch Niemand zu
dem Imperator geredet wie jener ehrwürdige Prediger Erman, der bei der
Begrüßung am Thore rund heraus sagte, ein Diener des Evangeliums dürfe
nicht die Lüge aussprechen, daß er sich freue über den Einzug des Feindes.
Die schonungslose Wahrhaftigkeit des Krieges vernichtete die Phrasen
der aufgeklärten Eitelkeit, zerstörte jene Traumwelt des Verstandes, worin
die großstädtische Ueberbildung sich zu verlieren pflegt, und zwang die er—
schlafften Gemüther wieder aus Herzensgrunde zu hassen und zu lieben.
Mit dem Wohlleben der geistreichen Geselligkeit ging auch die papierene
Zeit zu Ende. Nun da das Elend in jedem Hause wohnte, sah auch der
Bildungsstolz die gewaltige Hand des lebendigen Gottes; der Gelehrte
wie der Einfältige erkannte, was dies räthselvolle Leben ist ohne den
Glauben und was der armselige Mensch ohne sein Volk. Je länger die
Einquartierung währte, um so ernster, gesammelter, preußischer wurde die
Stimmung, und bald war die Stadt der frivolen Kritik kaum mehr
wiederzuerkennen. Alles lauschte in athemloser Spannung auf die Nach—
richten vom ostpreußischen Kriegsschauplatze. Die Invaliden spielten auf
ihren Drehorgeln das Klagelied um Prinz Louis Ferdinand, das einzige
Volkslied, das in dem dumpfen Jammer dieses Krieges entstanden war,
und am Geburtstage der geliebten Königin flammten, dem Verbote des fran—
zösischen Gouverneurs zum Trotz, in allen Berliner Häusern die Lichter
hinter den verhängten Fenstern. Auch auf dem Lande begann die Schlum—
mersucht der Friedenszeiten zu schwinden; mancher wetterfeste Bauersmann
blickte grimmig auf zu dem Bilde des großen Königs an der Wand.
So in Noth und Schmach lernte Barthold Niebuhr das preußische
Volk zuerst kennen und schloß sich ihm an mit aller Leidenschaft seines
großen Herzens, denn er sah an ihm, daß edle Naturen im Unglück
größer erscheinen als im Glücke. Unmittelbar vor der Jenaer Schlacht war
er aus Dänemark in den preußischen Staatsdienst hinübergekommen, und
als er dann auf der Flucht nach Königsberg mit den Pommern und
Altpreußen verkehrte, da schrieb er zuversichtlich: „ich habe in diesen Tagen
nirgends mehr so viel Kraft, Ernst, Treue und Gutmüthigkeit vereinigt
zu finden erwartet; mit einem großen Sinne geleitet wäre dies Volk der
ganzen Welt unbezwinglich gewesen!“ Doch die Menge will immer erst
fühlen bevor sie hört; früher und bewußter als in der Masse, die erst durch
die anhaltende Noth der kommenden Jahre ganz für den Gedanken der
Befreiung gewonnen wurde, erwachte der vaterländische Zorn unter dem
Kriegsadel und unter den Gelehrten. Der militärische Stolz des alten
Preußenthums und der kühne Idealismus der jungen deutschen Literatur
begegneten sich plötzlich in einem Gedanken. Mitten im Niedergange
der alten Monarchie bereitete sich schon die große Wendung vor, welche