274 I. 3. Preußens Erhebung.
revolutionären Sinne, der von dem Staate unendliche Menschenrechte
heischte, trat das strenge altpreußische Pflichtgefühl entgegen, dem dreisten
Dilettantismus der Staatsphilosophen die Sach= und Menschenkenntniß
eines gewiegten Verwaltungsbeamten, der aus den Erfahrungen des Lebens
die Einsicht gewonnen hatte, daß der Neubau des Staates von unten her
beginnen muß, daß constitutionelle Formen werthlos sind wenn ihnen der
Unterbau der freien Verwaltung fehlt.
Diese Gedanken, wie neu und kühn sie auch erschienen, ergaben sich
doch nothwendig aus der inneren Entwicklung, welche der preußische Staat
seit der Vernichtung der alten Ständeherrschaft bis zum Erscheinen des
Allgemeinen Landrechts durchlaufen hatte; sie berührten sich zugleich so nahe
mit dem sittlichen Ernst der Kantischen Philosophie und dem wieder er-
wachenden historischen Sinne der deutschen Wissenschaft, daß sie uns Nach-
lebenden wie der politische Niederschlag der classischen Zeit unserer Litera-
tur erscheinen. Gleichzeitig, wie auf ein gegebenes Stichwort wurden
sofort nach dem Untergange der alten Ordnung die nämlichen Ideen von
den besten Männern des Schwertes und der Feder geäußert, von Keinem
freilich so umfassend und eigenthümlich wie von Stein. In den Briefen
und Denkschriften von Scharnhorst und Gneisenau, von Vincke und Nie-
buhr kehrt überall derselbe leitende Gedanke wieder: es gelte, die Nation zu
selbständiger, verantwortlicher politischer Arbeit aufzurufen und ihr da-
durch das Selbstvertrauen, den Muth und Opfermuth der lebendigen
Vaterlandsliebe zu erwecken. Ein geschlossenes System politischer Ideen
aufzubauen lag nicht in der Weise dieser praktischen Staatsmänner; sie
rühmten vielmehr als einen Vorzug des englischen Lebens, daß dort die
politische Doctrin so wenig gelte. Und so war auch das einzige literarische
Werk, das unter Stein's Augen entstand, Vincke's Abhandlung über die
britische Verwaltung, der Betrachtung des Wirklichen zugewendet. Die
kleine Schrift gab zum ersten male ein getreues Bild von der Selbst-
verwaltung der englischen Grafschaften, die bisher neben der bewunderten
Gewaltentheilung des constitutionellen Musterstaates noch gar keine Be-
achtung gefunden hatte; sie enthielt zugleich eine so unzweideutige Kriegs-
erklärung gegen die rheinbündisch-französische Bureaukratie, daß sie erst
nach dem Sturze der napoleonischen Herrschaft gedruckt werden durfte.
Darum ist den Zeitgenossen der ganze Tiefsinn der Staatsgedanken Stein's
niemals recht zum Bewußtsein gekommen. Erst die Gegenwart erkennt,
daß dieser stolze Mann mit der Idee des nationalen Staates auch den
Gedanken der Selbstverwaltung, eine edlere, aus uralten unvergessenen
Ueberlieferungen der germanischen Geschichte geschöpfte Auffassung der
Volksfreiheit für das Festland gerettet hat. Jeder Fortschritt unseres
politischen Lebens hat die Nation zu Stein's Idealen zurückgeführt.
Es war der Schatten seiner Tugenden, daß er in den verschlungenen
Wegen der auswärtigen Politik sich nicht zurecht fand und die unentbehr-