Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Stein's Charakter. 275 
lichen Künste diplomatischer Verschlagenheit als niederträchtiges Finassiren 
verachtete. Ihm fehlte die List, die Behutsamkeit, die Gabe des Zauderns 
und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er sich mit 
vollendeter Sicherheit. Wenn aber eine Aussicht auf die Befreiung seines 
Vaterlandes sich zu eröffnen schien, so verließ ihn die besonnene Ruhe, 
und fortgerissen von dem wilden Ungestüm seiner patriotischen Begeisterung 
rechnete er dann leicht mit dem Unmöglichen. 
Den Staat bedachtsam zwischen den Klippen hindurchzusteuern, bis der 
rechte Augenblick der Erhebung erschien, war diesem Helden des heiligen 
Zornes und der stürmischen Wahrhaftigkeit nicht gegeben. Doch Niemand 
war wie er für die Aufgaben des politischen Reformators geboren. Der zer- 
rütteten Monarchie wieder die Richtung auf hohe sittliche Ziele zu geben, 
ihre schlummernden herrlichen Kräfte durch den Weckruf eines feurigen 
Willens zu beleben — das vermochte nur Stein, denn Keiner besaß wie er 
die fortreißende, überwältigende Macht der großen Persönlichkeit. Jedes 
unedle Wort verstummte, keine Beschönigung der Schwäche und der Selbst- 
sucht wagte sich mehr heraus, wenn er seine schwerwiegenden Gedanken in 
markigem, altväterischem Deutsch aussprach, ganz kunstlos, volksthümlich 
derb, in jener wuchtigen Kürze, die dem Gedankenreichthum, der ver- 
haltenen Leidenschaft des echten Germanen natürlich ist. Die Gemeinheit 
zitterte vor der Unbarmherzigkeit seines stachligen Spottes, vor den zermal- 
menden Schlägen seines Zornes. Wer aber ein Mann war, ging immer 
leuchtenden Blicks und gehobenen Muthes von dem Glaubensstarken hinweg. 
Unauslöschlich prägte sich das Bild des Reichsfreiherrn in die Herzen der 
besten Männer Deutschlands: die gedrungene Gestalt mit dem breiten 
Nacken, den starken, wie für den Panzer geschaffenen Schultern; tiefe, 
funkelnde braune Augen unter dem mächtigen Gehäuse der Stirn, eine 
Eulennase über den schmalen, ausdrucksvoll belebten Lippen; jede Be- 
wegung der großen Hände jäh, eckig, gebieterisch: ein Charakter wie aus 
dem hochgemuthen sechzehnten Jahrhundert, der unwillkürlich an Dürer's 
Bild vom Ritter Franz von Sickingen erinnerte — so geistvoll und so 
einfach, so tapfer unter den Menschen und so demüthig vor Gott — der 
ganze Mann eine wunderbare Verbindung von Naturkraft und Bildung, 
Freisinn und Gerechtigkeit, von glühender Leidenschaft und billiger Er- 
wägung — eine Natur, die mit ihrer Unfähigkeit zu jeder selbstischen Be- 
rechnung für Napoleon und die Genossen seines Glücks immer ein unbe- 
greifliches Räthsel blieb. Er war der Mann der Lage; selbst seine Schwächen 
und einseitigen Ansichten entsprachen dem Bedürfniß des Augenblicks. 
Wenn er das Beamtenthum und den kleinen Adel ungebührlich hart be- 
urtheilte, die Oesterreicher schlechtweg als Preußens deutsche Brüder ansah: 
umso besser für den Staat, der jetzt die adlichen Privilegien, die Allein- 
herrschaft der Bureaukratie zerstören und Alles was trennend zwischen 
den beiden deutschen Großmächten stand, hochherzig vergessen mußte. 
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