Stein's Charakter. 275
lichen Künste diplomatischer Verschlagenheit als niederträchtiges Finassiren
verachtete. Ihm fehlte die List, die Behutsamkeit, die Gabe des Zauderns
und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er sich mit
vollendeter Sicherheit. Wenn aber eine Aussicht auf die Befreiung seines
Vaterlandes sich zu eröffnen schien, so verließ ihn die besonnene Ruhe,
und fortgerissen von dem wilden Ungestüm seiner patriotischen Begeisterung
rechnete er dann leicht mit dem Unmöglichen.
Den Staat bedachtsam zwischen den Klippen hindurchzusteuern, bis der
rechte Augenblick der Erhebung erschien, war diesem Helden des heiligen
Zornes und der stürmischen Wahrhaftigkeit nicht gegeben. Doch Niemand
war wie er für die Aufgaben des politischen Reformators geboren. Der zer-
rütteten Monarchie wieder die Richtung auf hohe sittliche Ziele zu geben,
ihre schlummernden herrlichen Kräfte durch den Weckruf eines feurigen
Willens zu beleben — das vermochte nur Stein, denn Keiner besaß wie er
die fortreißende, überwältigende Macht der großen Persönlichkeit. Jedes
unedle Wort verstummte, keine Beschönigung der Schwäche und der Selbst-
sucht wagte sich mehr heraus, wenn er seine schwerwiegenden Gedanken in
markigem, altväterischem Deutsch aussprach, ganz kunstlos, volksthümlich
derb, in jener wuchtigen Kürze, die dem Gedankenreichthum, der ver-
haltenen Leidenschaft des echten Germanen natürlich ist. Die Gemeinheit
zitterte vor der Unbarmherzigkeit seines stachligen Spottes, vor den zermal-
menden Schlägen seines Zornes. Wer aber ein Mann war, ging immer
leuchtenden Blicks und gehobenen Muthes von dem Glaubensstarken hinweg.
Unauslöschlich prägte sich das Bild des Reichsfreiherrn in die Herzen der
besten Männer Deutschlands: die gedrungene Gestalt mit dem breiten
Nacken, den starken, wie für den Panzer geschaffenen Schultern; tiefe,
funkelnde braune Augen unter dem mächtigen Gehäuse der Stirn, eine
Eulennase über den schmalen, ausdrucksvoll belebten Lippen; jede Be-
wegung der großen Hände jäh, eckig, gebieterisch: ein Charakter wie aus
dem hochgemuthen sechzehnten Jahrhundert, der unwillkürlich an Dürer's
Bild vom Ritter Franz von Sickingen erinnerte — so geistvoll und so
einfach, so tapfer unter den Menschen und so demüthig vor Gott — der
ganze Mann eine wunderbare Verbindung von Naturkraft und Bildung,
Freisinn und Gerechtigkeit, von glühender Leidenschaft und billiger Er-
wägung — eine Natur, die mit ihrer Unfähigkeit zu jeder selbstischen Be-
rechnung für Napoleon und die Genossen seines Glücks immer ein unbe-
greifliches Räthsel blieb. Er war der Mann der Lage; selbst seine Schwächen
und einseitigen Ansichten entsprachen dem Bedürfniß des Augenblicks.
Wenn er das Beamtenthum und den kleinen Adel ungebührlich hart be-
urtheilte, die Oesterreicher schlechtweg als Preußens deutsche Brüder ansah:
umso besser für den Staat, der jetzt die adlichen Privilegien, die Allein-
herrschaft der Bureaukratie zerstören und Alles was trennend zwischen
den beiden deutschen Großmächten stand, hochherzig vergessen mußte.
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