Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Befreiung des Landvolks 281 
nehmen wollte, griff Stein den verschuldeten Großgrundbesitzern mit einem 
General-Indult unter die Arme. So gelang es, dem Landadel über die 
nächste schwere Zeit hinwegzuhelfen, die Mehrzahl der Rittergüter ihren alten 
Besitzern zu erhalten. Ebenso maßvoll bei aller Kühnheit war auch das 
neue Edict, das den Einsassen der Domänen in Ost- und Westpreußen, etwa 
47,000 bäuerlichen Familien, das freie Eigenthum verlieh; sie sollten be- 
fugt sein, drei Viertel der auf ihren Gütern haftenden Dienste und Ab- 
gaben binnen vierundzwanzig Jahren durch Geldzahlungen abzulösen. Ein 
Viertel blieb als unablösliche Contribution fortbestehen; Stein verwarf die 
vollständige Beseitigung aller dinglichen Lasten der Bauerngüter als eine 
allzu radicale Störung der gewohnten Besitzverhältnisse. Daran schloß sich 
die Aufhebung des Mühlenzwanges, der Zünfte und Verkaufsmonopolien 
für Bäcker, Schlächter und Höker. Verwandlung aller Dienste und Natural- 
abgaben in Geldzahlungen, Beseitigung der Zwangs= und Bannrechte, 
der Servituten, der Gemeinheiten war das Ziel, dem der Gesetzgeber zu- 
strebte; das freie Privateigenthum sollte überall zu seinem Rechte kommen. 
In scharfem Gegensatze zu dem fridericianischen Systeme der monarchischen 
Arbeitsorganisation wollten die neuen Gesetze „Alles entfernen, was den 
Einzelnen bisher hinderte den Wohlstand zu erwerben, den er nach dem 
Maße seiner Kräfte zu erreichen fähig war.“ Die nach Stein's Abgang er- 
lassene Instruction an die Verwaltungsbehörden sagte kurzab — in der 
Form sicherlich etwas abstracter als Stein selbst geschrieben hätte —: die 
Gewerbe sollten ihrem natürlichen Gange überlassen bleiben; es sei nicht 
nothwendig den Handel zu begünstigen, er müsse nur nicht erschwert werden. 
Im Auslande wurde der mächtige Umschwung, der das alte Preußen 
in seinen socialen Grundfesten erschütterte, kaum beachtet. Die bewegte 
Zeit hatte der radicalen Neuerungen genug erlebt, und wie viele, die mit 
größerem Lärm begannen, waren im Sande verlaufen. Die Franzosen 
spotteten, wie bedachtsam man in Königsberg den Spuren der großen 
Revolution folge. In Preußen selbst empfand man um so lebhafter, wie 
tief die neue Gesetzgebung in alle Lebensverhältnisse einschnitt. Das ge- 
bildete Bürgerthum begrüßte die Befreiung des Landvolks mit Freuden; 
in Breslau wurden die Thaten des königlichen Reformators auf der 
Bühne verherrlicht. Aber der kurmärkische Adel, der tapfere Marwitz 
voran, zürnte auf den dreisten Ausländer, der mit seiner fränkischen und 
ostpreußischen Beamtenschule das alte gute brandenburgische Wesen zer- 
störe. Unerhört erschien außer dem revolutionären Inhalt auch die jacobi- 
nische Sprache der Stein'schen Gesetze, die nach dem alten Brauche des 
Absolutismus in ausführlichen Erläuterungen die Absichten des Monarchen 
dem Volke zu erklären suchten und sich dabei wiederholt auf das Wohl 
des Staates, auf die Fortschritte des Zeitgeistes beriefen. Und nun gar 
die den märkischen Junkern ganz unbekannte Menschenklasse der „Land- 
bewohner“, die man am grünen Tische erfunden hatte! In der Priegnitz
	        
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