Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

466 I. 4. Der Befreiungskrieg. 
Gegen die Abtretung altpreußischer Gebiete sträubte sich das Pflicht- 
gefühl des Königs. Er wollte zur Noth Hildesheim, das nur vier Jahre 
lang preußisch gewesen, den Welfen überlassen, doch weder die getreuen 
Ravensberger, noch das feste Minden, das der Kriegskunst jener Zeit als 
der Schlüssel der Weserlinie galt. Auch als die welfischen Unterhändler 
statt dessen die Abtretung von Ostfriesland vorschlugen, blieb der König 
standhaft; es kam zu einem heftigen Auftritt zwischen ihm und dem Staats- 
kanzler. Die Welfen mußten sich zuletzt begnügen mit dem Versprechen, 
daß Preußen ihrem Stammlande eine Abrundung von 260—300,000 
Seelen, einschließlich Hildesheim, verschaffen werde. Die Aussichten der 
preußischen Diplomatie wurden von Tag zu Tag trüber; sie hatte neue 
drückende Verpflichtungen übernommen und zum Entgelt wieder nur die 
allgemeine Zusage erlangt, daß Preußen „zum mindesten“ ebenso mächtig 
werden solle wie vor dem Kriege von 1806. Einen Tag darauf schloß 
Rußland sein Kriegsbündniß mit England. Der Czar blieb für die Frie- 
denswünsche seiner Generale wie für Napoleon's Anerbietungen ganz un- 
zugänglich: der Ruhm des Weltbefreiers und die polnische Königskrone 
standen so glänzend vor seiner Seele, daß er der Ermahnungen Stein's 
jetzt kaum bedurfte, und der Kanzler Rumjanzoff, der alte Gegner der 
Coalition, entmuthigt um Entlassung bat. Die preußischen Patrioten 
fanden sich nach kurzer Verstimmung rasch wieder zusammen in der frohen 
Gemeinschaft der unsichtbaren Kirche, wie Niebuhr zu sagen pflegte; sie 
bemerkten bald, wie sehr die Waffenruhe der Ausbildung der Landwehr 
zu gute kam. In Schlesien entfaltete Gneisenau im Verein mit dem 
wackeren Präsidenten Merckel eine gewaltige Thätigkeit, so daß bei Ablauf 
des Stillstands 68 Bataillone Landwehr formirt waren. Blücher schrieb 
ihm zufrieden: „Landwehren sie man druff, aber wenn die Fehde wieder 
beginnt, dann gesellen Sie Sich wieder zu mich!“ 
Wie diese Rüstungen, so bewiesen auch die Friedensvorschläge des 
Czaren und des Königs, daß die Verbündeten nicht gesonnen waren auf 
halbem Wege stehen zu bleiben. Sie verlangten: Wiederherstellung der 
alten Macht von Preußen und Oesterreich, Auflösung des Rheinbundes 
und des Herzogthums Warschau, Rückgabe der Nordseeküste, endlich die 
Unabhängigkeit von Holland, Spanien und Italien. Es waren im We- 
sentlichen die Pläne von Bartenstein; nur ein ungeheuerer Krieg konnte 
sie verwirklichen. Ganz anders sah Kaiser Franz die Lage an. Ihm 
graute vor diesem Kriege, vor dem Enthusiasmus der norddeutschen Ju- 
gend; aus tiefster Seele hatte er seinem Schwiegersohne zu der Groß- 
görschener Schlacht Glück gewünscht und die Hoffnung ausgesprochen, dies 
erste Treffen werde viele Leidenschaften abgekühlt, viele Chimären zerstört 
haben. Furchtbar war ihm der Gedanke, daß er die unmilitärischen Ge- 
wohnheiten seines schläfrigen Schreiberlebens aufgeben und, wie die beiden 
verbündeten Monarchen, in's Feldlager gehen sollte. Regungen der Zärt-
	        
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