Die polnische Frage. 583
durchzusetzen. Wollte Hardenberg nicht ganz vereinsamt in die Kämpfe
des Congresses eintreten, so mußte er ein unvermeidliches Opfer bringen
und eine klare Verständigung mit Rußland herbeiführen. Die polnische
Frage war bei gutem Willen hüben und drüben keineswegs unlösbar.
Der Staatskanzler konnte, ohne ein Lebensinteresse seines Staates zu
schädigen, Kalisch, Czenstochau und das militärisch werthlose Land zwi—
schen Prosna und Warthe an Rußland dahin geben, wenn er dafür das
deutsche Thorn nebst dem Kulmerlande und Rußlands treuen Beistand in
allen deutschen Gebietsfragen gewann. Selbst die polnische Königskrone
Alexander's verlor bei nüchterner Prüfung viel von ihren Schrecken. Der
Plan des Czaren war unzweifelhaft eine phantastische Thorheit, doch ebenso
gewiß weit gefährlicher für Rußland selbst als für Preußen. Alexander
verwickelte sich durch seine polnische Krone in unabsehbare Händel, die den
russischen Staat auf Jahre hinaus beschäftigen und schwächen mußten;
Preußen dagegen konnte mit einiger Zuversicht hoffen, durch eine strenge
und gerechte Verwaltung sein geringes polnisches Gebiet gegen die sarma-
tische Begehrlichkeit zu behaupten. Mitten im Rausche der Siegestrunken-
heit fühlte Alexander doch zuweilen lebhaft die Gefahren seiner vereinsamten
Stellung. Auf der Rückreise von London traf er in Bruchsal mit Metter-
nich zusammen und versuchte dort sich mit der Hofburg über Polens Zu-
kunft zu verständigen; der österreichische Staatsmann wich behutsam der
verfänglichen Frage aus. Ein gewandter preußischer Diplomat, der die
Eitelkeit des Czaren zu schonen verstand, hätte also höchstwahrscheinlich
für das Angebot der polnischen Krone eine leidliche Regelung der Ost-
grenze erreichen können; ein treues Zusammengehen der beiden alten
Bundesgenossen in der Mainzer und der sächsischen Frage ergab sich
dann von selbst, da Rußland die bairisch-österreichischen Zettelungen sehr
ungünstig ansah und seinem Nachbarn von vornherein Sachsen zur Ent-
schädigung für Warschau angeboten hatte.
Zu Preußens Unheil hat Hardenberg diesen einzigen Weg, der zum
Ziele führen konnte, erst sehr spät, nach monatelangen Irrgängen, einge-
schlagen. Er konnte den niederschlagenden Eindruck, den ihm die über-
raschende erste Kunde von Alexander's polnischen Plänen hinterlassen, lange
nicht verwinden; er sah eine unberechenbare schwere Gefahr vom Osten her
gegen seinen Staat heranrücken und wollte mit England und Oesterreich
vereint das sogenannte Interesse Europas vertheidigen, die Eroberungslust
des Czaren in Schranken halten ohne doch den Bund mit Rußland auf-
zugeben. Die Dankbarkeit der Hofburg und des Cabinets von St. James
sollte ihm dann den Besitz von Sachsen sichern. Er bemerkte nicht, daß
er dadurch den Staat unvermeidlich zwischen zwei Feuer führte und seinen
sächsischen Ansprüchen selber den Boden unter den Füßen hinwegzog.
Der Staatskanzler wurde in seinem Irrthume bestärkt durch einen
ausführlichen Bericht Humboldt's vom 20. August über die Stimmungen