600 II. 1. Der Wiener Congreß.
den Lustbarkeiten des Congresses drangen unheimliche Nachrichten von
dem italienischen Geheimbunde der Carbonari, von der dumpfen Gährung
in Frankreich, von den Zornreden der enttäuschten preußischen Patrioten,
von den Verschwörungen der Griechen und dem Heldenkampfe der Ser-
ben wider ihre türkischen Tyrannen. Mochte man immerhin sorgsam
die Thüren schließen und das laute Anklopfen des demokratischen neuen
Zeitalters überhören, ganz geheuer fühlte man sich doch nicht mehr. Wie
sonst der Spott so war jetzt der Glaube Modepflicht: ein paar salbungs-
volle Worte über Christenthum und göttliches Königsrecht mußte auch
das Weltkind zur Verfügung haben. Die weibische Zierlichkeit des acht-
zehnten Jahrhunderts verrieth sich noch, wenngleich Zopf und Puder nicht
wieder auferstanden, in den bartlosen Gesichtern, den Tabaksdosen, den
Schuhen und seidenen Strümpfen, in der gesuchten Eleganz der männ-
lichen Kleidung; doch war der Ton des Umgangs schon um Vieles freier
und formloser geworden. Keine Rede mehr von den alten Rang= und
Titelstreitigkeiten, von dem pedantischen Gezänk über Form und Farbe
der Sessel; bald da bald dort, bei irgend einem der Bevollmächtigten
fanden sich die Minister zur Berathung zusammen und unterzeichneten
die Urkunden nach dem Alphabet oder auch in bunter Reihe, wie man
gerade am Tische saß. Am auffälligsten bekundeten sich die veränderten
Sitten an den großen Prunk= und Feiertagen des Congresses. Das
Mittelalter feierte kirchliche, das Jahrhundert Ludwig's XIV. höfische Feste;
die neue Zeit trug einen entschieden militärischen Charakter. Parade und
Heerschau wurden unvermeidlich, so oft sich der moderne Staat im Glanze
seiner Herrlichkeit sonnen wollte. Selbst dies Oesterreich, damals der am
wenigsten militärische unter den großen Staaten des Festlandes, durfte
die ungeheure Macht der neuen massenhaften Heere nicht ganz verkennen.
Vor fünfzig Jahren hatte man noch über den militärischen Anstrich des
preußischen Hofes vornehm gespottet, jetzt war die preußische Sitte allge-
mein eingebürgert, und auch der waffenscheue Kaiser Franz mußte zuweilen
in der Uniform erscheinen.
Ein Diplomaten-Congreß kann niemals schöpferisch wirken; genug,
wenn er die offenbaren Ergebnisse der vorangegangenen kriegerischen Ver-
wicklungen leidlich ordnet und sicherstellt. Und wie hätte diese Wiener Ver-
sammlung Größeres leisten sollen! Eine unbeschreibliche Ermattung lastete
auf den Gemüthern, wie einst da der Utrechter Congreß das blutige Zeit-
alter Ludwig's XIV. beendigte; und wie damals Kronprinz Friedrich die
allgemeine Verkommenheit der europäischen Staatskunst beklagte, so ging
jetzt die abgespannte und abgehetzte diplomatische Welt allen den unfertigen
neuen Ideen der Zeit ängstlich aus dem Wege und ließ sich's wieder
wohl sein bei jener bequemen Staatsanschauung des alten Jahrhunderts,
die den Staat nur als einen Haufen von Geviertmeilen und Seelen be-
trachtete. Die Wiener Luft that das Ihrige hinzu. Hier in dem Mittel-