Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

616 II. 1. Der Wiener Congreß. 
den holländischen Dienst verschlagen hatte er sich alsbald in seiner unsteten 
Phantasie ein Idealbild von dem europäischen Berufe des oranischen 
Hauses entworfen, und wie Münster von der welfischen Freiheit so redete 
er von der oranischen Politik der rechten Mitte. Was kümmerte es ihn, 
daß das alte Heldengeschlecht der Oranier längst die Augen geschlossen 
und die neue Linie Nassau-Diez von dem großen Sinne ihrer Ahnen 
nicht das Mindeste geerbt hatte? Selbst die unersättliche Ländergier des 
neuen Königs der Niederlande belehrte den Begeisterten nicht, obgleich er 
auf Augenblicke über dies Uebermaß der Habsucht selber erschrak. Vor- 
nehmlich für Deutschland erwartete er wunderbar segensreiche Folgen von 
der weisen Politik des Fürstenhauses, dessen Wahlspruch lautete: je main- 
tiendray! Im Rausche seines Enthusiasmus wußte er zwischen hollän- 
dischen und deutschen Interessen gar nicht mehr zu unterscheiden. Den 
geliebtesten und begabtesten seiner Söhne ließ er in das holländische Heer 
eintreten ohne zu ahnen, daß er ihn in die Fremde schickte; ebenso arg- 
los versuchte er ein Stück nach dem andern vom deutschen linken Rhein- 
ufer für seinen Herrn abzureißen. Sein König wollte von dem Deut- 
schen Bunde nichts hören; auch der Gesandte selber fand es bedenklich, 
die gesammten Niederlande als Bundesverwandte, wie Hardenberg wünschte, 
dem deutschen Gesammtstaate anzugliedern, und kam daher auf den un- 
sinnigen Vorschlag, daß die Niederlande, wie Oesterreich, Preußen und 
Dänemark, nur mit einem Theile ihres Gebiets, mit Luxemburg, dem 
Deutschen Bunde beitreten sollten. Diese Halbheit galt ihm keineswegs 
als ein trauriger Nothbehelf, sondern vielmehr als ein Triumph echt ger- 
manischer Staatskunst; denn je verzwickter, abgeschmackter und nebelhafter 
sich das deutsche Staatsrecht gestaltete, um so mehr schien es ihm dem 
uralten Geiste deutscher Freiheit zu entsprechen. An dem alten Reiche 
hatte er nichts so sehr bewundert wie die ungeheuerlichen Rechtsverhält- 
nisse von Schlesien und Altpreußen, von denen Niemand sicher sagen 
konnte, ob sie zu Deutschland gehörten. In solchen Bastardsgebilden sah 
er das eigentliche Wesen des corpus nomenque Germanige; wie beglückte 
ihn die Hoffnung, auch unsere Westgrenze mit einem ähnlichen Meister- 
werke germanischer Staatenbildung zu schmücken. 
Also trabten die großen Kinder der Kleinstaaterei seelenvergnügt auf 
ihren Steckenpferden dahin und bosselten und feilten mit ihren feinen 
Händen so lange an dem Staatsbau ihres Vaterlandes, bis die deutsche 
Verfassung wieder ganz ebenso phrasenhaft, verlogen und sinnlos wurde 
wie einst das alte Reich. Gegen Preußen hegte Gagern eine aus Todes- 
angst und Verehrung sonderbar gemischte Empfindung; der Haß fand 
überhaupt keine Stätte in dieser gutmüthigen Seele, die Alles, Men- 
schen und Dinge immer von der freundlichsten Seite nahm. Wenn er 
in seinen historischen Phantasien sich bis in die Zeiten Wilhelm's III. 
verstieg, dann hielt er sogar auf Augenblicke Brandenburg und Hol-
	        
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