674 II. 1. Der Wiener Congreß.
satz erhalten sollte: die Hauptmasse der linksrheinischen Pfalz, Hanau und
ein großer Theil des östlichen Odenwalds wurden den Wittelsbachern
versprochen, dazu „der Heimfall der badischen Pfalz“ sobald die regierende
Linie des badischen Hauses ausstürbe. Die réversibilite du Palatinat
hat sich seitdem wie ein rother Faden durch alle Wandlungen der neueren
bairischen Politik hindurchgezogen. Namentlich der Kronprinz Ludwig war
völlig beherrscht von diesem Gedanken; er sollte sein schönes geliebtes
Salzburg, wo er die letzten Jahre über Hof gehalten, jetzt an Oesterreich
ausliefern und wollte dafür mindestens die „Wiege seines Geschlechts“
zurückerwerben, obgleich durchaus kein Rechtsgrund den Anspruch unter-
stützte. Baiern hatte vor Jahren die rechtsrheinische Pfalz gegen über-
reichliche Entschädigung, ohne jeden Vorbehalt abgetreten, und es ließ sich
schlechterdings nicht absehen, warum das Land wieder an die Wittelsbacher
zurückfallen sollte sobald die Erbfolge in Baden auf die Grafen von Hoch-
berg überging. Nur die Mißgunst der Großmächte gegen das nachlässige
Regiment des Großherzogs Karl von Baden hat eine Zeit lang diese
bairischen Anmaßungen begünstigt. Aber der Aprilvertrag war todtge-
boren, denn er behielt ausdrücklich „die Zustimmung der betheiligten Sou-
veräne“ vor, und diese, Württemberg, Baden, beide Hessen, erhoben so-
fort lauten Einspruch. Der badische Bevollmächtigte Marschall hatte schon
früher dem Staatskanzler geschrieben: „Ludwig XIV. hat durch alle blu-
tigen Kriege, die Europa während seiner Regierung erschütterten, nicht
eine Million Einwohner für die französische Monarchie erworben, und
nun will Baiern durch einen coup de main im Wege der Unterhand-
lungen sich um 400,000 Unterthanen bereichern.““!) Jetzt erneuerte er
seinen Protest. Auch König Friedrich Wilhelm fand es höchst unbillig,
daß Hanau ohne jeden Rechtsgrund von Kurhessen abgerissen werden
sollte. So geschah es, daß der Aprilvertrag nicht ratificirt wurde, und die
Schlußacte des Congresses die Streitfrage offen ließ. —
Unter solchen Kämpfen kam die Wiederherstellung der preußischen
Monarchie zu Stande. Das Ergebniß der Wiener Verhandlungen war
eine halbe Niederlage der preußischen Politik; weder am Rhein noch in
Sachsen noch an der polnischen Grenze hatte sie ihre Ziele vollständig
erreicht. Der Staat war gegen den Besitzstand von 1805 um volle
600 Geviertmeilen kleiner und nur um kaum eine halbe Million Ein-
wohner stärker geworden, er hatte die versprochene Abrundung nicht er-
langt, sondern zerfiel wieder wie vor Alters in zwei weit entlegene Massen.
Zudem war ein den Hohenzollern verfeindetes Fürstenhaus wieder einge-
setzt, ein lebensunfähiger Mittelstaat, der niemals wieder zu gesunden
politischen Zuständen gelangen konnte, auf's Neue hergestellt. Die vier
Kleinkönige beherrschten fast ein Viertel von dem Gebiete des Deutschen
*) Marschall an Hardenberg, 5. März 1815.