700 II. 1. Der Wiener Congreß.
den Mittelstaaten eine neue Felonie zu erschweren und bedachten nicht,
wie grausam einst das alte Reich unter der zudringlichen Einmischung
seiner auswärtigen Garanten gelitten hatte. So kam es, daß Preußen
sich doch noch entschloß die Verhandlungen zu der denkbar ungünstigsten
Zeit wieder aufzunehmen.
Auf eine irgend erträgliche Ordnung der deutschen Dinge hoffte
Humboldt freilich längst nicht mehr; was frommte seine dialektische Kunst
gegen die Bosheit der Mittelstaaten und die berechnete Zurückhaltung
Oesterreichs? Er selbst gesteht: jetzt blieb nichts mehr übrig als den
Bund zu Stande bringen, gleichviel auf welche Weise. Dennoch legte
er sich abermals in's Zeug und brachte zu Anfang Aprils einen neuen
wesentlich abgekürzten Entwurf zu Stande. Es war der sechste. Aber
die Verhandlungen wurden wieder verschoben; die Mittelstaaten zeigten
keine Neigung sich noch auf irgend etwas einzulassen. In der zweiten
Hälfte des Monats schien die Stimmung wieder günstiger zu werden.
Sofort schöpfte Humboldt neuen Muth') und wagte am 1. Mai einen
siebenten, mehr in das Einzelne eingehenden Plan vorzulegen.
Die Hofburg jedoch erklärte beide Entwürfe für unmöglich. Das
Haus Oesterreich selber war natürlich nach seiner oft bewährten Reichs-
treue zu jedem Opfer bereit; daran durfte Niemand zweifeln, der die
brünstigen Betheuerungen der k. k. Staatsmänner vernahm. Nur wegen
des unüberwindlichen Widerstandes der kleinen Königshöfe sah sich der
österreichische Minister zu seinem lebhaften Bedauern genöthigt, die preu-
hischen Vorschläge wieder einmal abzuweisen. Metternich wußte aus seiner
reichen diplomatischen Erfahrung, daß langwierige Streitigkeiten zuletzt
durch die allgemeine Ermüdung entschieden werden. Jetzt begann dies
Gefühl bei Jedermann übermächtig zu werden. Alle stimmten dem Oester-
reicher bei, da er nun heraussagte, was schon im September seine Mei-
nung gewesen war: an eine Bundesverfassung sei für jetzt doch nicht zu
denken; genug wenn man ihre „Grundzüge“ feststelle. Dann holte er
jenen Wessenbergischen Plan vom December wieder hervor, der allerdings
kaum als der Grundzug eines Grundzugs gelten konnte, ließ das Mach-
werk ein wenig erweitern und übergab diese Umarbeitung am 7. Mai
als achten Entwurf den preußischen Staatsmännern. Ueber diesen Ent-
wurf ward nun endlich eingehend zwischen Metternich und Hardenberg
verhandelt. Auf Preußens Wunsch schaltete der Oesterreicher einige ver-
schärfende Zusätze ein, der Staatskanzler fügte eigenhändig den Artikel
über die Medigtisirten hinzu, und so entstand jener neunte und letzte
Bundesplan, welchen Metternich am 23. Mai im Namen Oesterreichs
und Preußens den Bevollmächtigten aller deutschen Staaten zur Be-
schlußfassung unterbreitete. Trotz der zweimaligen Umarbeitung waren
*.) So berichtet er selbst in der Systematischen Uebersicht.