702 II. 1. Der Wiener Congreß.
deutsche Bundesacte darin noch Platz finden sollte. So wurde denn
zwischen dem 23. Mai und dem 10. Juni, in elf kurzen Conferenzen,
wovon zwei nur den Ceremonien der Eröffnung und des Schlusses galten,
die schwerste aller europäischen Fragen abgethan. Frivoler ward niemals
mit dem Schicksal eines großen Volks gespielt. Bei der Eröffnung fehlte
Württemberg. Freiherr von Linden entschuldigte sein Ausbleiben in einem
französischen Billet mit einer Landpartie, sein Amtsgenosse Wintzingerode
schützte Unpäßlichkeit vor, und auch allen folgenden Sitzungen blieben die
Württemberger fern. Für die bereits abgereisten badischen Minister war
zwar ein Stellvertreter anwesend, er hatte jedoch keine Vollmacht und
erklärte nach einigen Tagen seinen Austritt. Die Uebrigen erschienen.
Die Kleinstaaten waren Anfangs nur durch fünf Bevollmächtigte vertreten,
setzten aber durch, daß von der dritten Sitzung an jeder Staat seinen
eigenen Vertreter sendete.
Am 26. Mai begann die eigentliche Berathung. Baiern verlangte
sogleich, gegen den lebhaften Widerspruch der Preußen, daß der Ausdruck
„souveräne“ Fürsten in den Eingang der Bundesacte aufgenommen werde.
Als man sodann den Entwurf im Einzelnen durchging, da erhob sich
bei jedem Artikel ein so heilloser Wirrwarr grundverschiedener Forderungen,
und auf dem Tische des Vorsitzenden häufte sich ein solcher Berg von
Noten, Vorbehalten und Bedenken an, daß jede Möglichkeit einer Ver-
ständigung aufhörte. Verstimmt ging man auseinander. Hardenberg und
Humboldt richteten Tags darauf in voller Verzweiflung an Metternich und
Münster eine Note-), worin sie aussprachen: bei der Kürze der Zeit und
nach den Erlebnissen der jüngsten Sitzung scheine die Fortsetzung einer
wirklichen Discussion unmöglich; die Ansichten gingen zu weit ausein-
ander, auch dürften Oesterreich, Preußen und Hannover — die also in den
Augen der preußischen Staatsmänner noch immer als treue Gesinnungs-
genossen erschienen — sich nicht in eine schiefe Stellung bringen, sich
nicht zwingen lassen um des lieben Friedens willen für die Schwächung
der Bundesgewalt zu stimmen. „Die Unterzeichneten sind bei allen Vor-
berathungen durchaus der Meinung S. F. Gnaden des Herrn Fürsten
von Metternich beigepflichtet, daß dasjenige, was die früheren Entwürfe
hierüber enthielten, nur der Nothwendigkeit den Bund jetzt und hier
wirklich zu schließen aufgeopfert werden könne; und sie gestehen frei, daß
sie einzig und allein aus diesem Grunde, einzig und allein um nicht jede
Vereinigung der Fürsten Deutschlands zu hindern oder aufzuschieben,
aber übrigens mit sehr schmerzlichen Gefühlen einen Entwurf mit vor-
gelegt haben, von dem sie nur zu sehr empfinden, wie wenig er dem
wichtigen Zwecke entspricht, den man sich unmittelbar nach der Befreiung
Deutschlands und noch bei dem Anfange des Congresses vorgesetzt hatte,
*) Hardenberg und Humboldt an Metternich und Münster, 27. Mai 1815.