706 II. 1. Der Wiener Congreß.
Liechtenstein. Beide Parteien des deutschen Clerus bestürmten die Staats—
männer mit ihren Eingaben. Cardinal Consalvi und die Oratoren for—
derten Herstellung des alten Besitzes und wo möglich auch der alten
politischen Macht der Kirche, jedenfalls Theilnahme kirchlicher Vertreter
an den Verhandlungen über den Bund und Wiederbesetzung der ver-
waisten Bisthümer durch den Papst. Heinrich Wessenberg andererseits
führte den Plan einer deutschen Nationalkirche unter der Leitung eines
Fürsten-Primas wiederholt in wortreichen Denkschriften aus und blieb doch
dabei, nach Priesterart, den Protestanten gegenüber ultramontan; eine
Anerkennung der Rechte der Evangelischen von Bundeswegen schien ihm
wenig wünschenswerth. Beide Parteien bekämpften einander leidenschaft-
lich. Wessenberg war den Oratoren kaum mehr als ein Ketzer. Graf
Spiegel aber, auch ein vornehmer feingebildeter Kirchenfürst der alten
Zeit, warnte die preußischen Staatsmänner dringend vor den Denkschriften
der Oratoren: „es weht darin ein rein ultramontanischer Geist, eine
Größe ganz im Gegensatze mit dem auf immer ehrwürdigen Wahrheits-
sinne, der die Väter auf den Concilien zu Constanz und Basel beseelte.“
Er wünschte zwar Herstellung der katholischen Kirche, aber auch ihre
Weiterbildung durch „liberale Regierungen“.)
Baiern und Württemberg standen beiden Theilen gleich feindlich gegen-
über; sie hofften, jedes für sich, durch ein Concordat mit Rom Landesbis-
thümer zu gründen und den Deutschen Bund hier wie überall ganz aus dem
Spiele zu lassen. Die Preußen endlich zeigten sich auch in dieser Frage, wie
durchweg in den Wiener Bundesverhandlungen, gerecht, freisinnig, national;
sie forderten, daß der Bund der katholischen Kirche eine für ganz Deutsch-
land gemeinsame Verfassung gebe, aber auch den evangelischen Landeskirchen
ihre alten Rechte gewährleiste. So wogten die Ansichten durch einander.
Nur in Einem stimmten Alle ohne Ausnahme überein: in der Meinung
nämlich, daß Oesterreich sich selbst überlassen, außerhalb der neuen Ord-
nung unseres kirchlichen Lebens bleiben müsse. Sobald man an irgend
eine praktische Frage herantrat, ergab sich immer wieder, daß Oesterreich
nicht zu uns gehörte. Daher konnte denn der von der liberalen Welt
gefeierte Heinrich Wessenberg in Wien bei seinem Bruder, dem k. k. Ge-
heimen Rath wohnen und sich sogar in den Kreisen der Hofburg einiger
Gunst erfreuen: was er erstrebte galt ja nur für die Länder draußen im
Reich, ließ die kaiserlichen Erblande unberührt. Zahllose Conferenzen
waren schon wegen dieser Kirchensachen gehalten worden, zu hohen Thür-
men hatte sich das Schreibwerk der Petitionen und Entwürfe aufgestapelt;
da gelang es doch endlich, vermuthlich durch Wessenberg's älteren Bruder,
in den letzten österreichischen Bundesentwurf einen Artikel einzuschalten,
welcher der katholischen Kirche eine gemeinsame Verfassung, den Evange-
*) Spiegel an Humboldt, 2. Decbr. 1815.