172 II. 4. Die Eröffnung des Deutschen Bundestages.
Warenausfuhr zu decken, also daß die britischen Baumwollenzeuge auf
dem deutschen Markte oft zu 30 bis 40 Prozent unter den Erzeugungs-
kosten angeboten wurden. Zudem hinderten die hohen Kornzölle Englands
die Ausfuhr deutschen Getreides, und in den Hungerjahren von 1816 und 17
ging dem deutschen Fabrikanten auch der einzige Vorteil verloren, den
er vor dem englischen Konkurrenten voraus hatte, der niedrige Arbeitslohn.
Erbittert durch so heillose Zustände warf sich die öffentliche Meinung
in unreife extreme Ansichten. Besorgte Fabrikanten verlangten ein hartes
Prohibitivsystem zum Schutze der deutschen Arbeit, und das überspannte
Teutonentum stimmte mit ein. In Berlin verschworen sich die Stadt-
verordneten mit einer großen Zahl angesehener Bürger, nur noch deutsche
Kleider und Geräte zu kaufen; ähnliche Vereine entstanden in Schlesien
und Sachsen. Auf der anderen Seite lärmten die radikalen Freihändler,
welche wie der Bayer Brunner alle Zölle als einen Eingriff in die natürliche
Freiheit verdammten; eine wissenschaftlich durchgebildete freihändlerische
Uberzeugung bestand erst in einem kleinen Kreise von Gelehrten und
unter den besten Köpfen des preußischen Beamtentums. Beseitigung oder
doch Beschränkung der Binnenmauten war der allgemeine Wunsch; schon
im Jahre 1816 berief E. Weber auf der Leipziger Messe eine Versamm-
lung von Fabrikanten und Kaufleuten, um dem Bundestage diese Bitte
vorzutragen. Aber wenige verbanden einen klaren Begriff mit den großen
Worten; wenige ahnten, welche ungeheueren Schwierigkeiten die Natur
selbst der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands entgegenstellte. Kein anderes
Kulturvolk war in Gemüt und Charakter so gleichartig, aber auch keines
umschloß in seinen Grenzen eine solche Verschiedenheit der klimatischen
Verhältnisse, der Verzehrungs= und Arbeitsgewohnheiten. Welch ein Ab-
stand von der Großindustrie des Niederrheins bis hinüber zu den halb-
polnischen Provinzen, wo mit den steigenden Getreidepreisen der Arbeits-
lohn zu sinken pflegte, weil nur der Hunger das träge Volk zur Arbeit
zwang; und wieder von dem nordischen Klima Ostpreußens, wo das Elen-
tier in den Forsten hauste, bis zu den gesegneten Weingeländen des
Rheines. Noch war der schöpferische Kopf nicht aufgetreten, der es ver-
mochte so grundverschiedenen Interessen gerecht zu werden.
Am wenigsten der Bundestag durfte sich zu einer solchen Arbeit er-
dreisten. Aber mindestens einen, schlechthin empörenden Ubelstand der
deutschen Verkehrsverhältnisse konnte und mußte die Bundesversammlung
beseitigen, als im Sommer 1816 eine Hungersnot über das verarmte Land
hereinbrach, deren gleichen man seit dem bösen Jahre 1772 nicht mehr
erlebt hatte. Monatelang strömte der Landregen vom Himmel, alle Flüsse
traten aus ihren Betten, in Mittel= und Westdeutschland ging fast die
gesamte Ernte zugrunde; noch im Frühjahr 1817 sah man am Rhein
blasse, jammernde Menschen die Felder durchstreifen und die verfaulten
Kartoffeln vom vorigen Jahre ausgraben. Die wenigen Landstraßen hatte