Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

254 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates. 
der freien Forschung tief überzeugt. Dem kirchlichen Leben stand der 
strenge Rationalist nicht ohne bureaukratisches Mißtrauen gegenüber, ein 
wachsamer Vertreter der Souveränität des Staates. Bei Hofe galt er 
neben Schön für den radikalsten der Oberpräsidenten,“) obwohl er die 
bissige Kritik des Ostpreußen verschmähte und in Wahrheit niemals weit 
über die Gedanken des aufgeklärten Absolutismus hinausging. 
Die Schlesier hatten in großer Zeit bewiesen, wie fest sie an ihrem 
Staate hingen; auch die verwahrlosten Wasserpolen Oberschlesiens zeigten 
sich der Krone tief ergeben, wenngleich die Begeisterung des Befreiungs- 
krieges sie nur wenig berührte, und blieben völlig unempfänglich für die natio- 
nale Propaganda der Polen. Hier allein ward der König Friedrich wahrhaft ge- 
liebt; von der „vorpreußischen Zeit“ sprach das Volk selten und ohne Freude, 
selbst der Adel dachte nicht mehr an seine altständische Herrlichkeit. Gleich- 
wohl lebte hier noch ein zäher Partikularismus, der in der „Schlesischen 
Gesellschaft für vaterländische Kultur“ zu Breslau eifrige Pflege fand. Die 
Provinz nannte sich gern das Kleinod in Preußens Krone, sie war bis 
zum Jahre 1808 immer durch eigene Provinzialminister, unabhängig von 
dem alten Generaldirektorium, verwaltet worden und fand sich schwer 
darein, daß man sie jetzt mit allen anderen Provinzen auf einen Fuß stellte. 
Die alte Hauptstadt, die nunmehr, der Festungsmauern entledigt, das male- 
rische Gewirr ihrer finsteren Gassen mit einem Kranze lieblicher Baumgänge 
zu umgürten begann, bildete den bewegten Sammelplatz eines reichen und 
mannigfaltigen landschaftlichen Sonderlebens. Sie war Kopf und Herz 
der Provinz, wie keine der anderen Provinzialhauptstädte, selbst Königs- 
berg nicht ausgenommen. Hier lag die aufblühende Hochschule neben der 
Residenz des einzigen Fürstbischofs der Monarchie, der Schmutz der Juden- 
gassen neben den Palästen des lebenslustigen Adels; deutsches und pol- 
nisches Volkstum, protestantische und katholische Bildung, Beamtentum 
und Bürgertum, Großindustrie und Landbau stießen hier auf einander. 
Über dies bunte Treiben blickten die Schlesier noch wenig hinaus: selten 
verließ einer die geliebte Heimat, wo alles so traulich verschwägert und 
vervettert war, jede Hochzeit und jeder Geburtstag unfehlbar von sang- 
lustigen Oder= und Boberschwänen in behaglichen Reimen gefeiert wurde. 
Der stolze katholische Adel, der noch bis zum Jahre 1811 seine jüngeren 
Söhne in den Domherrenpfründen des reichen Bistums untergebracht 
hatte, war in der Armee wie im Beamtentum nur spärlich vertreten; 
er sonderte sich von den kleinen Soldatengeschlechtern der pommerschen 
und märkischen Ritterschaft vornehm ab und verkehrte fast häufiger in 
Wien als in Berlin. Die Städteordnung, die Gewerbefreiheit und die 
neuen agrarischen Gesetze hatten hier bisher mit einem starken Wider- 
willen lämpfen müssen, und Merckel bedurfte seiner ganzen Klugheit und 
.v 
* Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819.
	        
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