Die Verfassung und das Religions-Edikt. 353
der niederen Geistlichkeit, zu einem Viertel von den Städten, zur Hälfte
von den Bauern erwählt werden; die also Gewählten vertraten aber nicht
die Rechte ihres Standes, sondern die Interessen des gesamten Landes.
Die beste Gewähr für ein leidliches Gedeihen dieser konstitutionellen Formen
bot das neue, der Städteordnung Steins nachgebildete Gemeinde-Edikt,
das einige Tage vor der Verfassung veröffentlicht wurde. Wohl stand
dies Gesetz weit hinter seinem preußischen Vorbilde zurück; ein großer
Teil der städtischen Geschäfte ward noch immer nicht von der Bürgerschaft
sondern von bezahlten Gemeindeschreibern besorgt, die Landgemeinden
blieben auch fernerhin sehr abhängig von den Schreibern der Landgerichte,
und viele der tüchtigsten Bauern weigerten sich darum das Amt des Ge—
meindevorstehers zu übernehmen. Aber mindestens der Grundsatz der kom—
munalen Selbstverwaltung wurde anerkannt, die Gemeinden erhielten die
Verfügung über ihr Vermögen, die freie Wahl der Magistrate und Ge—
meindebevollmächtigten. Ein Boden praktischer Volksfreiheit war doch
endlich gewonnen, ein Boden, in dem die neue Verfassung vielleicht feste
Wurzeln schlagen konnte.
Als Anhang der Verfassung erschien neben neun anderen organischen
Gesetzen ein Religionsedikt, das dem Konkordate die ersehnte „Interpre—
tation“ gab. Darin wurden die bewährten Grundsätze der neuen bay—
rischen Kirchenpolitik noch einmal zusammengestellt, die Parität der Be—
kenntnisse unumwunden anerkannt, bei gemischten Ehen die Trennung der
Kinder nach dem Geschlechte vorgeschrieben und der Krone das altbayrische
Recht des Placet gewahrt. Kein Satz darin, der nicht den leitenden
Gedanken des Konkordats geradezu widersprach. Der Kurie erschien es
wie Hohn, daß nunmehr auch das Konkordat, selbstverständlich unter
Vorbehalt der Rechtsgrundsätze des Religionsedikts, als Staatsgesetz ver—
kündigt wurde. Sie klagte heftig über den offenkundigen Vertragsbruch
und ließ sich auch nicht beschwichtigen, als der König den Kanonikus
Helfferich, einen der ultramontanen Oratoren des Wiener Kongresses,
mit beruhigenden Versicherungen nach Rom sendete. Da wagte der alte
Häffelin, der jetzt im glücklichen Genusse des Kardinalspurpurs alle Scham
verlor, eine neue grobe Pflichtverletzung. Er versicherte, wieder eigenmäch-
tig und ohne Helfferichs Vorwissen: das Religionsedikt gelte nur für die
Akatholiken; und der Papst säumte nicht, diese schimpfliche Erklärung in
einer triumphierenden Allokution der Welt zu verkündigen.
Zum zweiten Male war die Ehre der bayrischen Krone durch den un-
getreuen Gesandten öffentlich bloßgestellt; einige der Minister forderten
dringend die Bestrafung des „Staatsverbrechers“. Aber auch diesmal war
Max Josephs gutmütige Schlaffheit unbezwinglich. Er begnügte sich, seinen
Kreisregierungen durch ein Reskript einzuschärfen, daß das Religionsedikt
für jedermann im Königreiche gelte, und mußte nunmehr neuen beschämen-
den Händeln mit dem erbitterten Papste entgegensehen. Solche Winkelzüge
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 23