Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Die Verfassung und das Religions-Edikt. 353 
der niederen Geistlichkeit, zu einem Viertel von den Städten, zur Hälfte 
von den Bauern erwählt werden; die also Gewählten vertraten aber nicht 
die Rechte ihres Standes, sondern die Interessen des gesamten Landes. 
Die beste Gewähr für ein leidliches Gedeihen dieser konstitutionellen Formen 
bot das neue, der Städteordnung Steins nachgebildete Gemeinde-Edikt, 
das einige Tage vor der Verfassung veröffentlicht wurde. Wohl stand 
dies Gesetz weit hinter seinem preußischen Vorbilde zurück; ein großer 
Teil der städtischen Geschäfte ward noch immer nicht von der Bürgerschaft 
sondern von bezahlten Gemeindeschreibern besorgt, die Landgemeinden 
blieben auch fernerhin sehr abhängig von den Schreibern der Landgerichte, 
und viele der tüchtigsten Bauern weigerten sich darum das Amt des Ge— 
meindevorstehers zu übernehmen. Aber mindestens der Grundsatz der kom— 
munalen Selbstverwaltung wurde anerkannt, die Gemeinden erhielten die 
Verfügung über ihr Vermögen, die freie Wahl der Magistrate und Ge— 
meindebevollmächtigten. Ein Boden praktischer Volksfreiheit war doch 
endlich gewonnen, ein Boden, in dem die neue Verfassung vielleicht feste 
Wurzeln schlagen konnte. 
Als Anhang der Verfassung erschien neben neun anderen organischen 
Gesetzen ein Religionsedikt, das dem Konkordate die ersehnte „Interpre— 
tation“ gab. Darin wurden die bewährten Grundsätze der neuen bay— 
rischen Kirchenpolitik noch einmal zusammengestellt, die Parität der Be— 
kenntnisse unumwunden anerkannt, bei gemischten Ehen die Trennung der 
Kinder nach dem Geschlechte vorgeschrieben und der Krone das altbayrische 
Recht des Placet gewahrt. Kein Satz darin, der nicht den leitenden 
Gedanken des Konkordats geradezu widersprach. Der Kurie erschien es 
wie Hohn, daß nunmehr auch das Konkordat, selbstverständlich unter 
Vorbehalt der Rechtsgrundsätze des Religionsedikts, als Staatsgesetz ver— 
kündigt wurde. Sie klagte heftig über den offenkundigen Vertragsbruch 
und ließ sich auch nicht beschwichtigen, als der König den Kanonikus 
Helfferich, einen der ultramontanen Oratoren des Wiener Kongresses, 
mit beruhigenden Versicherungen nach Rom sendete. Da wagte der alte 
Häffelin, der jetzt im glücklichen Genusse des Kardinalspurpurs alle Scham 
verlor, eine neue grobe Pflichtverletzung. Er versicherte, wieder eigenmäch- 
tig und ohne Helfferichs Vorwissen: das Religionsedikt gelte nur für die 
Akatholiken; und der Papst säumte nicht, diese schimpfliche Erklärung in 
einer triumphierenden Allokution der Welt zu verkündigen. 
Zum zweiten Male war die Ehre der bayrischen Krone durch den un- 
getreuen Gesandten öffentlich bloßgestellt; einige der Minister forderten 
dringend die Bestrafung des „Staatsverbrechers“. Aber auch diesmal war 
Max Josephs gutmütige Schlaffheit unbezwinglich. Er begnügte sich, seinen 
Kreisregierungen durch ein Reskript einzuschärfen, daß das Religionsedikt 
für jedermann im Königreiche gelte, und mußte nunmehr neuen beschämen- 
den Händeln mit dem erbitterten Papste entgegensehen. Solche Winkelzüge 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 23
	        
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