Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

372 II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe. 
Zwei Tage darauf unternahm Kapodistrias den kühnen Versuch, in 
einer Denkschrift „über die Akte vom 26. Sept. 1815“ den europäischen 
Höfen darzulegen, daß die neue konstitutionelle Herrlichkeit nichts anderes 
sei als das notwendige Ergebnis der Ideen der Heiligen Allianz. Die 
von dem Heiligen Bunde anerkannten Grundsätze der christlichen Sitten- 
lehre — so beteuerte er salbungsvoll — hätten jetzt in Polen ihre An- 
wendung gefunden; möge nun die hohe Weisheit der Verbündeten Sr. 
Majestät den Wert dieses Beispiels würdigen. „Dies Beispiel wird den 
Staaten, welche sich bereits liberaler Institutionen erfreuen, zeigen, daß 
allein die väterliche Gewalt der Fürsten berechtigt ist Verfassungen zu 
verleihen, und daß diese Institutionen, also zum Zwecke des allgemeinen 
Wohles angewendet, nicht nur mit der Ordnung sich vertragen, sondern 
sogar deren stärkste Bürgschaft werden. Polens Beispiel wird endlich den 
Völkern beweisen, daß die Laufbahn der bürgerlichen Freiheit fortan allen 
Nationen eröffnet ist. Vielleicht", hieß es zum Schluß, „wird man diese 
Betrachtungen auch jetzt noch in das Reich der Träume verweisen wollen. 
Gleichviel. Seien wir nur selber versichert, daß sie keine Träume sind, 
und suchen wir denen, die uns Ergebenheit beweisen, dieselbe Überzeugung 
beizubringen.“) So stellte sich Rußland feierlich an die Spitze der libe- 
ralen Bewegung Europas. Die deutschen Kabinette aber wußten wohl, 
warum sie das wundersame Programm des christlichen Liberalismus tief 
geheim hielten. Schon die Thronrede des Zaren hatte die ungeduldigen 
Konstitutionellen lebhaft erregt; die gesamte liberale Presse erging sich in 
Vergleichungen zwischen der polnischen Freiheit und der deutschen Knecht- 
schaft. Metternich, Wellington, Richelien verhehlten ihre Besorgnisse nicht. 
Gentz beklagte bitter die Rücksichtslosigkeit des Zaren gegen seine Nach- 
barn; auch mutigere Männer fragten verwundert: warum man also mit 
dem Feuer spiele inmitten der Polen, die sich bereits wieder in Geheim- 
bünden gegen das russische Joch verschworen? 
Dem badischen Hofe blieb jetzt keine Wahl mehr. Immer wieder 
meldete Blittersdorff, wie dringend ihn Kapodistrias an die verheißenen 
„Institutionen“ erinnere. Auch Hardenberg ließ wiederholt dieselbe Mah- 
nung aussprechen und empfahl zugleich den gerechten Wünschen der Media- 
tisierten entgegenzukommen; dann würde man Bayerns „Bemühungen ganz 
neutralisieren“. )) Bereits im April war die Verfassungskommission wieder 
zusammengetreten; der wackere Finanzrat Nebenius, der gelehrteste Kenner 
der Volkswirtschaft in Deutschland, arbeitete mit treuem Fleiße einen 
fünften Entwurf aus und nahm sich dabei das Meisterwerk des russischen 
Gönners, die glorreiche polnische Verfassung zum Muster. Da kam die 
Schreckensnachricht aus München: Bayern hatte seine Konstitution voll- 
  
*) Kapodistrias, Mémoire sur I'Acte du 26 Septembre. Warschau 29. März 1818. 
**) Weisung an Varnhagen, 11. Juli 1818.
	        
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