Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

460 II. 8. Der Aachener Kongreß. 
Talent, bewährte sich in Kunst und Wissenschaft als ein feiner Kenner. 
Aber von dem derben Ehrgeiz und der rastlosen Tätigkeit des geborenen 
Staatsmannes besaß er wenig. 
Mit ihm begann eine neue Generation der preußischen Diplomatie. 
An der Stelle jener wetterfesten, arbeitsharten Politiker, welche einst mit 
Leib und Seele dem großen Kurfürsten und dem großen Könige gedient hat— 
ten, erschienen jetzt in müder Friedenszeit immer häufiger geistreiche, liebens- 
würdige literarische Dilettanten, denen der Staat nicht mehr eines und 
alles war. Schon beim Antritt seines neuen Amtes fühlte sich Graf 
Bernstorff müde und abgespannt, obgleich er das fünfzigste Jahr noch 
nicht erreicht hatte, und bald nachher ward er von der altadligen Stan- 
deskrankheit, dem Podagra, so anhaltend heimgesucht, daß er nur noch 
selten einen ganz gesunden Tag verlebte. Von den inneren Zuständen 
Preußens kannte er vorläufig nur, was ein fremder Diplomat zu be- 
obachten vermag, und zu seinem Unheil war er schon seit langem ge- 
wöhnt, sich vornehmlich von Ancillon über die deutsche Politik belehren 
zu lassen. Der rätselhafte Heiligenschein, der diesen gelehrten Hofmann 
umschwebte, blendete den neuen Minister noch gänzlich, und der badische 
Gesandte General Stockhorn war sicherlich auf der rechten Fährte, wenn 
er seinem Hofe meldete, daß Ancillon und Wittgenstein gemeinsam die 
Berufung Bernstorffs veranlaßt hätten. Der Briefwechsel zwischen Bern- 
storff und Ancillon ist noch großenteils erhalten. Er zeigt deutlich, wie 
der neue Minister noch über ein Jahr lang den Lehren seines schreib- 
seligen Mentors mit gläubiger Andacht lauschte. Erst als es zu spät war, 
erst gegen das Ende des Jahres 1819 hatte sich Bernstorff in den deutschen 
Dingen zurechtgefunden und mit eigenen Augen zu sehen gelernt; seit- 
dem entfernte er sich Schritt für Schritt von den reaktionären Doktrinen 
des Meisters und bewies, daß er nach Temperament und Gesinnung zu 
den gemäßigten Konservativen gehörte. Aber während jener kritischen andert- 
halb Jahre, welche den Umschwung der Bundespolitik herbeiführten, blieb 
Bernstorff ein Genosse Ancillons. 
Seine Berufung war ein Sieg der reaktionären Partei und förderte, 
ohne daß er es selber ahnte, die Absichten derer, welche die konstitutio- 
nellen Pläne des Staatskanzlers insgeheim zu vereiteln trachteten. Vorder- 
hand geriet die Verfassungsarbeit gänzlich ins Stocken. Hardenberg unter- 
nahm im Juli auf dem neuen Dampfschiff „der Kurier“ von Humphreys 
eine Fahrt von Potsdam nach Hamburg, die als unerhörtes Wagnis be- 
wundert wurde, und begab sich von da nach dem Rheine, wo er wochen- 
lang mit den Angelegenheiten der Provinz und diplomatischen Verhand- 
lungen beschäftigt war. Die Ungeduld der Verfassungspartei wuchs von 
Tag zu Tag. In leidenschaftlichem Zorne schrieb Boyen an Schön: „Diese 
auf Tatsachen ruhende Liebe des Volks zu seinem Könige, alles das 
was seit Jahrhunderten ehrwürdige Denker für den Zweck der Mensch-
	        
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