526 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
und die Tiefe ihrer Empfindung das Entzücken ihrer Umgebung werden,
ein Mann ohne Verstand vermag auch nicht fein und sicher zu empfinden.
Nur darum konnte der Unglückliche in gutem Glauben den Namen Gottes
bei seiner Untat anrufen, weil sein armes Hirn nicht einzusehen ver—
mochte, daß der harte Hochmut seiner sittlichen Weltanschauung das
genaue Gegenteil christlicher Liebe und Demut war.
Die Zeitgenossen urteilten anders. Die Massen des Volkes freilich,
denen die Ideale der teutonischen Jugend immer fremd blieben, verhielten
sich gleichgültig. In jenen gebildeten Kreisen aber, die sich als die Träger
der öffentlichen Meinung fühlten, herrschte eine Unsicherheit des sittlichen
Urteils, die zu den traurigsten Verirrungen unserer neuen Geschichte
zählt. Nicht bloß die akademische Jugend begrüßte Sands Tat als „ein
Zeichen dessen, was kommen wird und kommen muß“. Selbst reife Männer
verglichen den Mörder mit Tell, mit Brutus, mit Scävola. Während
die französische Presse verwundert fragte, wie unter den gewissenhaften
Deutschen eine solche Banditentat möglich geworden sei, zitierten deutsche
Gelehrte das alte Griechenlied:
Verbirg den Dolch, der dem Tyrannen droht,
Im Myrtenkranze wie Harmodios —
und der Stralsunder Konrektor hielt in der Schule einen Vortrag über
die großen Tyrannenmörder der Hellenen. Der im Zeitalter der klassi—
schen Dichtung gepflegte Kultus der freien Persönlichkeit stimmte die
öffentliche Meinung empfänglich für die sophistische Überzeugungsmoral
der Unbedingten: Sand sollte schuldlos sein, weil er wie Jesus nach seiner
Überzeugung gehandelt habe — eine entsetzliche Ansicht, die schließlich
dahin führen muß, jeden verhärteten Verbrecher freizusprechen und nur
den schwankenden, dessen Gewissen noch nicht erstorben ist, zu verdammen.
In Nasses medizinischer Zeitschrift führte der Irrenarzt Grohmann aus:
„Sands Tat hatte nur die äußere, scheinbare Form des Meuchelmords;
es war offene ausgemachte Fehde, es war die Tat eines bis zum höchsten
Grade der Moralität, der religiösen Weihe erhöheten und verlebendigten
Bewußtseins.“
Auch ein Theolog, der fromme, kindlich liebenswürdige de Wette
in Berlin, sprach sich in dem gleichen Sinne aus, als ob ein denkendes
Wesen nicht auch für seine Uberzeugung verantwortlich sei. Er hatte
den Unglücklichen persönlich gekannt und fühlte sich in seinem guten Herzen
gedrungen, der Mutter einen Trostbrief zu schreiben. Darin gab er
wohl zu, daß die Tat ihres „außerordentlichen Sohnes aus Irrtum
hervorgegangen und nicht ganz frei von Leidenschaft“ sei. Aber „der Frr-
tum wird aufgewogen durch die Lauterkeit der Überzeugung, die Leiden-
schaft wird geheiligt durch die gute Quelle, aus der sie fließt. Er hielt es
für recht, und so hat er recht getan; ein jeder handle nur nach seiner
besten Uberzeugung, und so wird er das Beste tun. So wie die Tat