576 II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe.
bekämpfte, wendete sich jenen revolutionären Naturrechtslehren zu, die von
der deutschen Wissenschaft längst überwunden waren. Im Zorn über das
erlittene Unrecht geriet der deutsche Liberalismus recht eigentlich außer sich;
er vergaß des unschätzbaren Segens der Befreiungskriege, er begann die
Helden jener Kämpfe als Betrogene oder Betrüger gering zu schätzen und
verfiel nach und nach einer weltbürgerlichen, radikalen Schwärmerei, die
für ein werdendes Volk schlechthin verderblich werden mußte.
Obwohl die Presse unter der Obhut der sofort in Wirksamkeit treten-
den Zensur nur wenig sagen durfte, so konnte doch selbst der Diplomatie
der allgemeine Zorn nicht entgehen. In Frankfurt, in Stuttgart, in
München, überall äußerte sich die Entrüstung der gebildeten Stände in
heftigen Reden, überall verglich man die neue schwarze Kommission mit
dem Wohlfahrtsausschusse des Konvents.) Niemand aber empfand die
Unbill schwerer als die Professoren, die sich wegen der Torheiten einiger
Jenenser jetzt allesamt von Bundes wegen geschmäht und verleumdet sahen.
Was mußten Dahlmann und Falck, die beiden Vorkämpfer des deutschen
Rechts in Kiel empfinden, als Holstein und zugleich auch das nicht zum
Bunde gehörige Schleswig jetzt als erstes Geschenk von dem befreiten
Deutschland die Zensur empfingen, nachdem sie fünfzig Jahre lang, seit
den Tagen Struensees, unter der absoluten Herrschaft der dänischen Allein-
gewalt-Erbkönige sich der unbeschränkten Preßfreiheit erfreut hatten. Die
Kieler Blätter gingen ein, weil sie sich keinem Zensor unterwerfen wollten.
Dahlmann aber, der noch so oft für die Empfindungen des empörten natio-
nalen Gewissens das rechte Wort finden sollte, nannte die deutschen Uni-
versitäten durch jene Bundesbeschlüsse „unvergeßlich herabgewürdigt und
beleidigt". Er kündigte dem Freiherrn vom Stein die Mitarbeiterschaft an
den Monumenta Germaniae auf, so lange an der Spitze des Unternehmens
jene Bundesgesandten stünden, welche an der Beschimpfung des deutschen
Gelehrtenstandes Teil genommen: „Mein guter Name ist mir mehr wert
als ein wissenschaftliches Unternehmen. Ich möchte nicht, daß es gelänge,
auf dem mit Unterdrückung und Verfolgung — und womit vielleicht bald?
— befleckten Boden edle Früchte der Wissenschaft durch gebundene Hände zu
ziehen.“ Zum Geburtstage des König-Herzogs trat er sodann in akademischer
Festrede unerschrocken als Anwalt der verleumdeten Universitäten auf; er
nannte das Majestätsverbrechen „das einzige und eigentümliche Verbrechen
derer, welche nie ein Unrecht getan“; er verteidigte das Recht der neuen
Zeit sich ihre eigenen politischen Formen zu finden: „ein Neuerer ist auch
wer das Veraltete herzustellen sucht“ — und sagte voraus, die neuen Bundes-
gesetze würden, da sie den leeren Formen des Friedens sein inneres Wesen
opferten, nur polizeiliche Ruhe, nicht den Frieden begründen.
*) Berichte von Goltz aus Frankfurt, 22., 28. Sept., 26. Okt., von Zastrow aus
München, 9. Okt., von Küster aus Stuttgart, 12. Okt. 1819.