Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

578 II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe. 
skriptionen des Sulla, der Tyrannei des Tiberius verfallen; überall sonst 
suche die Willkür nach einer Verkleidung, nur in Deutschland schreite sie 
schamlos, ohne Larve einher. 
Der also angeschlagene Ton ward seitdem treulich eingehalten. Das 
den Nachbarn so unbequeme Erstarken Mitteleuropas schien jetzt nicht mehr 
gefährlich seit der Deutsche Bund sich schweigend dem Hause Osterreich 
unterworfen hatte. Dreißig Jahre lang blieb Deutschland fortan für die 
Presse des Westens das klassische Land aller politischen Erbärmlichkeit, der 
Beachtung freier Briten und Franzosen völlig unwert, und die Nation, 
welche zweimal binnen zwei Jahren ihre siegreichen Fahnen auf dem Mont- 
martre aufgepflanzt hatte, ward von ihren besiegten Nachbarn mit gering- 
schätzigem Wohlwollen als ein gutmütiges Philistervolk behandelt, das bei 
Bier, Tabak und Philosophie die Zeit verträume und in richtiger Selbst- 
erkenntnis auf alle Pläne politischer Macht und Freiheit gemächlich ver- 
zichtet habe. Die Deutschen aber hatten sich in das Bewußtsein des hoff- 
nungslosen „deutschen Elends“ bald so gründlich eingelebt, daß sie solche 
Kundgebungen urteilslosen. Hochmuts als Beweise der Uberlegenheit west- 
europäischer Kultur willig hinnahmen und sich in ihrer weltbürgerlichen 
Bruderliebe nicht mehr stören ließen. 
Trotz dem Unwillen der Nation wurden die Karlsbader Beschlüsse 
überall mit einer Pünktlichkeit vollzogen, wie seit unvordenklichen Zeiten 
kein Reichs= oder Bundesgesetz. Die Zentral-Untersuchungskommission 
trat sofort zusammen. Ihr bösartigstes Mitglied war der Bayer Hör- 
mann, jener fanatische Bonapartist, der seit Jahren in der Alemannia 
die Borussomanen verfolgte und nun sie gänzlich auszurotten hoffte. 
Der Badener Pfister und der Nassauer Musset gingen mit ihm Hand in 
Hand. Preußen hatte anfangs den elenden Grano bevollmächtigt, aber 
bald regte sich in Berlin die Scham über eine solche Vertretung; man 
rief den Menschen zurück und ersetzte ihn durch den Präsidenten von Kaisen- 
berg, einen ausgezeichneten Juristen, der sein widerwärtiges Amt mit großer 
Umsicht und Mäßigung führte, unter fortwährenden Kämpfen mit Hör- 
mann viel Unheil und Willkür abwendete. 
Unverzüglich begannen die Zensoren und die Universitätsbevollmäch-- 
tigten überall ihre Tätigkeit. Die Jenenser Burschen sprachen dem Groß- 
herzog in einem ruhig gehaltenen Briefe ihr Bedauern aus, daß man sie 
öffentlich verkannt habe, und lösten am 27. November gehorsam ihre Ver- 
bindung auf. Beim Scheiden erklangen die Verse von Binzer: 
Das Band ist zerschnitten, 
War schwarzrotundgold. 
Und Gott hat es gelitten. 
Wer weiß was er gewollt! — 
sentimentale Klagen, die wahrhaftig nicht auf revolutionäre Entschlüsse 
deuteten. Einige der Getreuesten traten noch in der nämlichen Nacht zu-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.