Die Reform der Landwehr. 603
wärtigen Reibungen geführt. Kircheisen leitete in den neuen Provinzen
des Ostens die Organisation der Gerichte ganz im Geiste eines konser—
vativen altländischen Juristen, aber mit Geschick und Erfolg. Beyme
dagegen begutachtete alle Vorschläge seines Amtsgenossen ungünstig und
versuchte einzelne Institutionen des rheinischen Rechts, das ihm als ein Ideal
galt, in die östlichen Provinzen zu übertragen; zudem hatte er soeben von
den rheinischen Staatsprokuratoren ein Votum über die Strafbarkeit von
Görres' neuester Schrift eingefordert und sich ihrem verneinenden Aus—
spruch angeschlossen. Des ewigen Haders müde, wendete sich Kircheisen
jetzt an den König (27. November) mit der Anfrage: ob dem Minister Beyme
eine Kontrolle über die Provinzen der altpreußischen Gerichtsverfassung zu—
stehe? sei dies der Fall, dann müsse er um seinen Abschied bitten.“)
Auch der Kriegsminister fühlte sich auf seinem Posten nicht mehr sicher.
Der König bestand jetzt auf der Durchführung jenes militärischen Planes,
mit dem er sich schon seit Jahren trug: er wollte die Landwehr fester mit
der Linie verbinden, ihr schon im Frieden die für den Krieg bestimmte
Formation geben. Boyen aber konnte sich mit dem zweckmäßigen, durch-
aus unverfänglichen Unternehmen nicht befreunden; er meinte, dadurch
werde „der eigentliche Geist, der die Landwehr halte“, verloren gehen. Auf-
geregt durch die Kämpfe im Staatsministerium, erbittert über die schlechten
Künste der Demagogenverfolger, begann er den finsteren Gerüchten Glauben
zu schenken, welche von der nahen Aufhebung der Landwehr erzählten. Im
diplomatischen Korps glaubte man allgemein, daß der Wiener Hof insge-
heim gegen die verhaßte demokratische Truppe arbeiten lasse;"*“) und wahr-
scheinlich hat auch Herzog Karl von Mecklenburg mit seinem Anhang diese
günstige Zeit der reaktionären Springflut benutzt, um seine alten Bedenken
gegen das Landwehrsystem noch einmal geltend zu machen. Andererseits
hatten die Parteiphrasen des Liberalismus das Ihrige getan, um eine
streng sachliche Beurteilung der Fragen der Heeresverfassung zu erschweren.
Wohl lag ein kühner demokratischer Gedanke dem preußischen Wehrgesetze
zum Grunde; eine Nation mit solchem Heerwesen konnte nicht gegen ihren
entschiedenen Willen regiert werden, auch die unmittelbare Teilnahme an
der Gesetzgebung und Verwaltung ließ sich ihr auf die Dauer nicht ver-
sagen. Aber wie verzerrt und entstellt erschienen diese Wahrheiten in allen
den törichten Zeitungsartikeln, welche das Volksheer der Landwehr als ein
Bollwerk gegen den Mietlingsgeist der Linienoffiziere verherrlichten. Die
wohlgemeinte Schrift des Hauptmanns von Schmeling über Landwehr und
Turnkunst erklärte die Kreisausschüsse, welche das Ersatzgeschäft besorgten,
geradezu für den ersten Keim der preußischen Verfassung und veranlaßte
die Gegner zu der entrüsteten Frage, ob ein großer Staat mit hunderten
kleiner Kreisparlamente noch regiert werden könne.
7) Kircheisens Bericht an den König, 27. Nov. 1819.
*5) Bericht des badischen Gesandten General von Stockhorn, Berlin 21. Dez. 1819