76 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Geschichte des Menschengeschlechts einwirkt. Als Ritter im Jahre 1817
diesen neuen Gedanken in dem ersten Bande seiner vergleichenden Erd—
kunde zuerst aussprach, erhob er die Geographie zu einer selbständigen
Wissenschaft. In ihm arbeitete der nämliche Drang nach Erkenntnis der
gesetzmäßigen Notwendigkeit des historischen Lebens, der aus Savignys
und Bopps Werken sprach, und wie diese Beiden erinnerte er sich bei
seinen Unternehmungen oft an das Vorbild der vergleichenden Anatomie.
Die Formen der Erde beseelten sich vor seinen Augen wie die Wortformen
vor Jacob Grimms Forscherblick. Er sah in den Weltteilen die großen
Individuen der Erde und lehrte, jedes Land vertrete eine sittliche Kraft,
übernehme die Erziehung seiner Bewohner, erlebe seine notwendige Ge—
schichte. Mit ungeheurem Fleiße trug er alles zusammen was jemals
Naturforscher, Reisende, Historiker über Land und Leute berichtet hatten,
um zunächst an Asien die ewige Wechselwirkung von Natur und Geschichte
zu erweisen. Kam sein Werk zum Ziele — und er selber nannte noch
im hohen Alter die Geographie bescheiden eine erst werdende Wissenschaft
— so war der ganze Entwicklungsgang der Menschheit als eine örtlich
bedingte Naturerscheinung dargetan. Schwächere Köpfe konnten auf so
schwierigem Wege leicht in eine materialistische Geschichtsanschauung hinein-
geraten; für Ritter war diese Versuchung nicht vorhanden. Denn er
blieb noch als Mann in seinem Herzen ein einfältiges, frommes Kind,
wie vormals da er in Schnepfenthal zu den Füßen des guten Salzmann
saß. Nicht blinde Naturgesetze, sondern den Willen des lebendigen Gottes
hoffte er durch sein Forschen zu erkennen; heilige Andacht durchschauerte
ihn so oft ihm eine Ahnung von dem tiefen Sinne der unbegreiflich
hohen Werke aufging, und oft nannte er sein Buch „mein Lobgesang
des Herrn“.
Wenige Wissenschaften hängen mit der Macht und dem Reichtum
der Völker so innig zusammen, wie die Erdkunde; sie folgt in den An-
fängen der Geschichte immer den Spuren des Eroberers und des wagenden
Kaufmanns, auch in gesitteten Zeiten bedarf sie königlicher Mittel um
Neues zu finden. Nur den Deutschen ist es gelungen, sich zweimal allein
durch die Kraft ihres Geistes eine führende Stellung in der geographi-
schen Wissenschaft zu erzwingen. Als die Spanier und Portugiesen sich
in die Herrschaft beider Indien teilten und Deutschlands alte Handels-
größe zusammenbrach, da trat Copernicus dem Columbus ebenbürtig an
die Seite. Wie viele Weltumsegler und Entdecker hatten seitdem bei den
Staatsgewalten Englands, Frankreichs, ja selbst Rußlands freigebige
Unterstützung gefunden. In Deutschland, dem Lande ohne Kolonien und
fast ohne Welthandel, geschah nichts dergleichen; die Nation und ihre Re-
gierungen blickten noch kaum hinaus über die armselige Beschränktheit
ihres binnenländischen Stilllebens. Auf eigene Kosten mußten Alexander
von Humboldt und Leopold von Buch ihre kühnen Reisen unternehmen. Als