Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Karl Ritter. 77 
Adalbert von Chamisso in jenen Tagen von seiner Weltumseglung heim— 
kehrte und beim Anblick des Swinemünder Leuchtturms im tiefsten Herzen 
erschüttert fühlte, er sei ein Deutscher geworden und hier grüße ihn die 
liebe Heimat, da wehte die russische, nicht die preußische Flagge über 
seinem Haupte. Und doch war es ein Sohn dieses Binnenvolkes, der 
jetzt die Erdkunde in ihren Grundlagen neu gestaltete; einen erstaun— 
licheren Erfolg hat der deutsche Idealismus selten errungen. — 
So weit Deutschlands historische Wissenschaften den Nachbarvölkern 
vorauseilten, ebenso tief blieb der allgemeine Stand unserer Naturfor- 
schung hinter den Leistungen der Franzosen und Engländer zurück. Paris 
galt noch lange mit Recht als die Heimat der exakten Wissenschaften. 
Einzelne große Köpfe wurden freilich durch die reiche poetisch-philosophische 
Bildung der letzten Generation in den Stand gesetzt, geradeswegs die 
höchsten Ziele der Naturforschung ins Auge zu fassen, die Natur als 
Einheit, als Kosmos zu begreifen; hatte doch Goethe in seiner Metamor- 
phose der Pflanzen durch die Tat bewiesen, daß die Idee die Erschei- 
nungen der Natur ganz und gar durchdringen und verklären kann ohne 
sie willkürlich zu entstellen. Alexander Humboldt gestand immer dankbar, 
durch Goethe sei er erst mit neuen Organen für das Verständnis der 
Natur ausgestattet worden; nur weil er einst aus dem Quell, der in 
Jena und Weimar floß, mit vollen Zügen getrunken hatte, konnte er sich 
die staunenswerte Vielseitigkeit seiner Naturkenntnis erwerben. Auch 
Ritter wäre ohne die Naturphilosophie niemals auf den Gedanken ge- 
raten, in seiner Erdkunde alle Zweige der historischen und der exakten 
Forschung zu gemeinsamem Schaffen zu vereinigen. Der Masse der Min- 
derbegabten aber gereichte die Kühnheit der Philosophie zum Verderben. 
Nicht umsonst hatte Schelling den übermütigen Ausspruch getan: 
seit man die Idee des Lichtes kenne, sei Newtons bloß empirische Farben- 
lehre überwunden. Nicht umsonst hatte der fahrige Hendrik Steffens, 
noch dreister, gefordert, die Naturforschung müsse sich steigern zur Spe- 
kulation und in allem Sinnlichen schlechterdings nur noch das Geistige 
erkennen. Jeder junge Fant, dem eine neue Idee im Kopfe gährte, meinte 
sich nun berechtigt, die Welt der Erscheinungen nach einem vorgefaßten 
Plane zurechtzurücken; Lorenz Oken stand im vierten Semester des medi- 
zinischen Studiums, als er schon den Grundriß seines Systems der Na- 
turphilosophie veröffentlichte. Man verlor die Ehrfurcht vor dem Wirk- 
lichen, der Chemiker mochte sich die Hände nicht beschmutzen, der Physiker 
verschmähte die Ergebnisse seiner „Apperception“ durch Experimente zu 
prüfen. Verworrene Bilder verdrängten die klaren Begriffe. Im Tone 
des Propheten sprach Schelling von den beiden Prinzipien der Finsternis 
und des Lichtes, deren Angel das Feuer sei. Der Diamant war der 
zum Bewußtsein gekommene Kiesel, die Wälder die Haare des Erdtiers, 
und am Acuator zeigte sich die angeschwollene Bauchseite der Natur.
	        
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