Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

120 III. 2. Die letzten Reformen Hardenberg's. 
tragische Schicksal beschieden war, sich selber und der Welt ein Räthsel 
zu bleiben, seine Zeit zu verkennen und von ihr verkannt zu werden, eine 
echt deutsche Natur, leider, der die Ueberfülle der Gedanken die Schnell- 
kraft des Entschlusses lähmte, ein Fürst, fähig die höchsten Erwartungen 
zu erregen und doch keiner ganz zu genügen. 
Für seine wissenschaftliche Bildung war mit Umsicht gesorgt worden; 
Niebuhr hatte ihn in die Staatswissenschaft, Wolzogen in die Kriegs- 
geschichte eingeführt. Doch keiner seiner beiden Erzieher, weder der milde 
Theolog Delbrück noch späterhin der höfische Ancillon, hatte vermocht den 
eigenwilligen Sinn des Prinzen durch strenge Zucht zur Selbstbeherrschung 
zu zwingen. Nicht als ob er den gemeinen Versuchungen der Höfe je 
erlegen wäre: er blieb sein Lebelang nicht nur sittenstreng, sondern auch 
innerlich rein, durch und durch ein Idealist, mit allen seinen Sinnen den 
ewigen Gütern des Lebens zugewendet. Was ihm fehlte war die Samm- 
lung des Geistes, die dem Reichbegabten am schwersten erreichbar, doch 
auch für ihn die Vorbedingung alles großen Schaffens bleibt. Wie ein 
Schmetterling flog sein Geist von Blume zu Blume über die weiten Auen 
des idealen Genusses. Nie war er glücklicher, als wenn ihn ein „göttlicher 
Sommernachtstraum“ umfing, wenn er von Hellas träumte oder von der 
ewigen Stadt oder von der Einheit der allgemeinen evangelischen Kirche; 
dann malte er sich die Bilder seiner Sehnsucht in glühenden Farben 
aus, bis er Traum und Wirklichkeit kaum noch unterscheiden konnte. Als 
er zum ersten male nach Rom kam, fühlte er sich alsbald wie daheim: so 
leibhaftig hatte er die Amphitheater, die Obelisken und die Dome schon 
in seinen Träumen gesehen. Einem so vielseitigen, so unstet in die Weite 
schweifenden Geiste lag die Gefahr des Dilettantismus sehr nahe, und 
wie so viele Dichter der romantischen Schule mehr geistreiche Kenner 
waren als schöpferische Künstler, so fand auch dieser Staatsmann der 
Romantik seinen Beruf mehr im Anregen neuer Gedanken als im Gestalten 
und Vollbringen. 
Die stärkste Kraft seiner Seele war das religiöse Gefühl. Wohl 
vertraut mit der Dogmatik und der Kirchengeschichte, beugte er sich in 
Demuth vor der christlichen Offenbarung. Ohne den persönlichen Verkehr 
mit seinem Herrn und Heiland schien ihm das Leben des Lebens nicht 
werth; wenn ihn die heilige Andacht durchschauerte, dann war es zu- 
weilen, als ob der Geist seines Lieblingsbuches, des Psalters aus ihm 
redete, und ein Klang von Davids Harfe tönte durch seine begeisterten 
Worte. Er hoffte auf die Zeit, da der christliche Glaube die weite Erde 
bezwingen und überall die eine Kirche herrschen würde, evangelisch, ohne 
sichtbares Oberhaupt, aber frei und weit genug um verschiedene Bekenntnisse 
zu ertragen; dann sollten die Bischöfe wieder alle auf ihren alten Sitzen 
thronen und auch das altbiblische Amt der Diakonen wieder aufleben. 
Nichts schien ihm hassenswürdiger als Gewissenszwang oder die Ver-
	        
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