Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Befugnisse der Provinzialstände. 245 
sie zeigte handgreiflich, daß die staatsrechtliche Trennung von Stadt und 
Land ihren Sinn verloren hatte in dem modernen Verkehrsleben. Noch 
schwerer war der Bauernstand benachtheiligt; galt es doch noch als ein 
Wagniß, dem neuen Stande irgend eine Vertretung zu geben. Und dieser 
zurückgesetzte Stand trug im Osten ungleich schwerere Steuerlasten als 
die Ritterschaft! 
Aus den Reihen der Notabeln erhob sich kein irgend lebhafter Wider- 
spruch. Zwar die schlesischen Ritter murrten, sie fanden das Opfer, das 
man dem Adel zumuthe, fast zu groß; aber nur ein Bürgermeister aus 
dieser Provinz wagte für die unteren Stände eine stärkere Stimmenzahl 
zu verlangen, und die Bauerschaft war ja gar nicht vertreten unter den 
Notabeln. Schönberg dagegen forderte nachdrücklich für jeden Stand ein 
Drittel der Stimmen, er trug diese Ansicht während der Ferien nochmals 
brieflich dem Kronprinzen vor*) und beruhigte sich erst, als man ihm 
vorstellte, daß der Bauernstand, vornehmlich in den Marken, erst in der 
Entwicklung begriffen sei, seine Interessen mit denen des Adels meist 
zusammenfielen, und ihm im Nothfall noch die itio in partes offen stehe. 
Zudem sollte die Stimmenzahl der Bauern „nach Zeit und Umständen“ 
erhöht werden. Doch diese Zeiten und Umstände konnten niemals er- 
scheinen. Der Gesetzgeber selber gewöhnte den Adel, seinen Einfluß nicht 
auf die schweren Pflichten der Selbstverwaltung, sondern auf die bequeme 
Ausbeutung des ständischen Stimmrechts zu stützen; wie durfte man er- 
warten, daß der herrschende Stand der Provinziallandtage freiwillig auf 
die Macht der Mehrheit verzichten würde? 
Der politische Fehler, der in dem vorläufigen Aufgeben der Reichs- 
verfassung lag, rächte sich am schwersten bei der Berathung über die 
Befugnisse der Provinzialstände. Der Kronprinz hoffte mit der ehrlichen 
Begeisterung der Jugend, ein reiches vielgestaltiges Leben im Schooße seiner 
historischen Stände erblühen zu sehen. Auch Voß, Ancillon, Vincke und 
Schönberg wollten keineswegs die Stände zur Ohnmacht verdammen. 
Nicht böser Wille, sondern die unerbittliche Consequenz des verfehlten 
Grundgedankens zwang den Ausschuß, der Macht der Stände enge und 
doch unbestimmte Schranken zu setzen. War die Krone fest entschlossen, 
die Reichsstände den Provinzialständen auf dem Fuße folgen zu lassen, so 
mußten letztere ausschließlich auf die Provinzialangelegenheiten angewiesen 
werden und man konnte ihnen unbedenklich auf diesem ihrem natürlichen 
Gebiete sehr wirksame Rechte einräumen. Jetzt, da jene entscheidende 
Frage in der Schwebe blieb, erschien auch das Selbstverständliche zweifel- 
haft. Die Verordnung vom 22. Mai und das Staatsschuldenedikt ver- 
hießen den Reichsständen bestimmte Rechte, den Provinzialständen gar 
nichts. Schönberg verfiel nun in guter Absicht auf den Vorschlag, daß 
  
*) Schönberg an den Kronprinzen, 5. August 1822.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.