Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

368 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. 
Die würdige Haltung des westphälischen Landtags war vornehmlich 
dem Einfluß Stein's zu verdanken. Lieber als in seinem schönen Nassau, 
wo ihn Alles an den Verlust seiner Freiheit erinnerte und die Viel— 
geschäftigkeit des rheinbündischen Beamtenthums ihn beständig reizte, lebte 
der Freiherr jetzt auf seinem preußischen Dotationsgute, der alten 
Prämonstratenserpropstei Cappenberg. Hier fühlte er sich heimisch. Mitten 
im Hofe seines einsamen Schlosses stand die ehrwürdige Kirche des heiligen 
Norbert, und wenn er auf seinen „braunen Hengst“ gestützt auf der Terrasse 
lustwandelte, dann blickte er über die alten Eichen seiner Forsten hinweg 
ins Thal der Lippe und zum fernen Gebirge, weithinaus in das Land der 
rothen Erde, dem er einst die Kraft seiner ersten Mannesjahre gewidmet 
hatte. Auf Vincke's Vorschlag wurde er als der anerkannt erste Mann 
der Provinz zum Landtagsmarschall ernannt. Schwer heimgesucht von 
den Plagen des Alters und auf einem Auge schon erblindet, nahm er 
doch willig an und eröffnete in dem prächtigen Friedenssaale des Rath- 
hauses zu Münster den ersten Landtag mit einer Rede, worin er noch 
einmal auf den sittlichen Zweck der politischen Freiheit hinwies. Er hieß 
die neue Verfassung willkommen, weil sie helfen werde das Volk zur 
Selbstthätigkeit zu erziehen: „sie wird binden, bilden, heben, sie wird die 
Gemüther vereinen, indem sie alle nach einem Ziele streben, der Verherr- 
lichung des Vaterlandes; sie wird dem Einzelnen ein Gefühl seines 
Werthes geben, indem sie seine edleren und besseren Kräfte in Anspruch 
nimmt.“ Leicht war es nicht unter Stein's Vorsitz zu tagen, seine Heftig- 
keit hatte sich mit den Jahren nicht gemildert. Sobald er eintrat, ver- 
stummten alle Gespräche, und wehe dann Jedem, der durch unnützes Ge- 
schwätz die Verhandlung erschwerte; auch ungerecht konnte er werden, 
wenn er etwa zu bemerken glaubte, daß ein „Bauernadvokat“ die Land- 
leute gegen das bewährte alte Sachsenrecht aufwiegelte; selbst mit Vincke, 
dem Landtagscommissar, gerieth er wegen der Einrichtung des Katasters 
hart an einander, und die beiden Eisenköpfe konnten sich niemals wieder 
ganz versöhnen. Aber die sittliche Hoheit des gewaltigen Mannes hob 
die ganze Versammlung; aus jedem seiner Worte sprach die warme Liebe 
zu seiner anderen Heimath. In der Leitung der Geschäfte bewährte er 
noch die alte Meisterschaft, alle Lebensverhältnisse des Landes kannte er 
aus dem Grunde, und die Bauern wußten wohl, daß sie doch auf der 
Welt keinen besseren Freund besaßen, als diesen Stolzen, der jetzt im 
Alter seine aristokratische Gesinnung so oft mit verletzender Schroffheit 
aussprach. 
Auch in den anderen Landtagen bekundete sich viel Menschenverstand 
und praktische Lebenserfahrung; die Anhänglichkeit an den König, die sich 
in den Adressen der Stände oft mit kindlicher Einfalt äußerte, schloß den 
ehrlichen Freimuth keineswegs aus. An die Verwaltung der ihnen über- 
lassenen Communalanstalten gingen die Landstände fast überall mit freudigem
	        
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