Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Uebertritt der Herzogin von Köthen. 395 
Lutherlande ihr Lager auf; die verrufene Freistätte des deutschen Schmuggel— 
handels wurde für drei Jahrzehnte zugleich die Hochburg der clericalen 
Umtriebe im Nordosten. König Friedrich Wilhelm antwortete seiner 
Schwester mit schonungsloser Aufrichtigkeit: „Ich muß Ihnen ganz frei 
heraussagen, daß meines Dafürhaltens nie ein unglücklicherer, unseligerer 
Entschluß von Ihnen gefaßt werden konnte.“ Dann stellte er ihr Alles 
vor, was ihm seine feste evangelische Ueberzeugung eingab, und schloß: 
„Heraus mußte es. Hab ich Unrecht, so helfe mir Gott!“ Bald darauf 
erschien diese Antwort in den Zeitungen mit Genehmigung des Königs. 
Ihn kümmerte es nicht, daß die katholischen Blätter und der anhaltische 
Hofrath v. Schütz in einer eigenen Gegenschrift über seine Härte klagten. 
Er wollte vor der Welt ein Zeugniß ablegen von der unveränderten 
Gesinnung seines Hauses, das sich bisher des Convertitenwesens streng 
erwehrt hatte; auch drängte es ihn, die gehässigen Gerüchte zu widerlegen, 
welche ihn selber katholischer Neigungen bezichtigten. Mit Absicht hatte 
er in seinen Brief die Versicherung eingeflochten, daß die erneuerte alte 
evangelische Agende der unirten Landeskirche auf dem Boden der reinen 
biblischen Lehre stehe; denn eben durch diese Agende sowie durch die katho— 
lischen Heirathen im königlichen Hause waren neuerdings manche ängst— 
liche Protestanten an der Glaubenstreue des frommen Monarchen irr 
geworden. — 
Unauslöschlich hafteten in Friedrich Wilhelm's Seele die religiösen 
Eindrücke, die er einst nach der ersten Einnahme von Paris in England 
empfangen hatte; mit Rührung gedachte er der tiefen Stille des Sabbaths, 
der dichten Schaaren der Kirchgänger in den Straßen Londons, der feier— 
lichen Würde des anglicanischen Gottesdienstes. Die tiefdunklen Schatten— 
seiten der englischen Kirchlichkeit blieben dem Fürsten, der dort in der 
Fremde nur die Oberfläche des Lebens kennen lernte, freilich verborgen; 
er bemerkte nicht, wie viel herzlose Werkheiligkeit sich hinter dieser Andacht 
verbirgt, noch wie viele geheime Sünden die unnatürliche Strenge der 
englischen Sonntagsfeier hervorruft. Als er dann heimkehrte, gehobenen 
Herzens, voll demüthiger Dankbarkeit gegen die Gnade Gottes, die er so 
sichtbar über sich und seinem Volke hatte walten sehen, da erschrak er 
über seine spärlich besuchten deutschen Kirchen und fühlte sich erkältet durch 
die dürftige Nüchternheit ihres Cultus, der im Zeitalter der Aufklärung 
allmählich allen Adel der Form, Alles was die Gemüther erbaut und er— 
hebt, so gänzlich abgestreift hatte, daß eine Predigt über einige moralische 
Gemeinplätze oft den ganzen Inhalt des Gottesdienstes ausmachte. Der 
alte Rationalismus wollte, wie einer seiner Führer selbstzufrieden sagte, 
„den Interessen der Menschheit und des Staates dienen mit schonender 
Berücksichtigung des im Volke noch nicht erstorbenen Christenglaubens“. 
Unter der langjährigen Herrschaft dieser sittlich achtungswerthen, aber 
durchaus unkirchlichen Richtung waren mit dem Dogma auch die Cultus—
	        
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