Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

396 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. 
formen dem persönlichen Gutdünken der Geistlichen anheimgefallen; fast 
jeder Pfarrer legte sich nach Belieben seine eigene Agende zurecht. Wie 
ward dem frommen Karl v. Raumer zu Muthe, als er in Halle an der 
Bahre eines geliebten Sohnes stand und der Prediger, statt der Bibel— 
worte, nach denen das Herz des Vaters schmachtete, aus Witschel's „An— 
dachten“ ein fades Gedicht über die Vergänglichkeit vorlas. Bei der 
Trauung pflegten die aufgeklärten Geistlichen die Mahnung „und er soll 
dein Herr sein“ gemeinhin wegzulassen, weil sie ihnen zu ungalant klang. 
Der Anblick dieser Anarchie mußte den Glaubensernst des Königs 
ebenso peinlich berühren wie seinen militärischen Ordnungssinn; unter 
allen schlimmen Dingen auf der Welt, sagte er zu Cylert, ist das schlimmste 
die Willkür. Wie er vor Kurzem den Geistlichen anbefohlen hatte, statt 
der geschmacklosen Modefräcke und Spitzhüte, die in jüngster Zeit auf- 
gekommen waren, den würdigen lutherischen Talar wieder anzunehmen, so 
meinte er sich auch verpflichtet, kraft seines oberstbischöflichen Rechtes die 
Einheit des Cultus, deren jede geordnete Religionsgemeinschaft bedarf, seiner 
Landeskirche wiederzugeben. Durch die Erneuerung der Agende Martin 
Luther's, den er als den theuren Gottesmann, als den größten aller Refor- 
matoren verehrte, wollte er das Werk der Union sichern, die evangelische 
Kirche zu ihrem ursprünglichen Lehrbegriffe zurückführen, den erbaulichen 
Gebeten und Gesängen wieder ihr gutes Recht neben der Lehre gewähren 
und „seine evangelischen Unterthanen gegen den Mißbrauch einer regel- 
losen, Zweifelsucht und Indifferentismus erzeugenden Willkür schützen“. 
Da er sich bewußt war kirchlicher zu denken als der Durchschnitt 
der Geistlichen, so ging er mit ungewohnter Entschlossenheit selber vor und 
gab zunächst den Garnisonskirchen seiner beiden Residenzen eine Liturgie, 
die er sodann (1821) zu einer vollständigen Agende erweiterte und sämmt- 
lichen Gemeinden der Landeskirche anempfehlen ließ. Die neue Agende 
war ein schönes Werk evangelischer Frömmigkeit; sie schloß sich treu an 
die ersten liturgischen Arbeiten der Reformationszeit an und stand mit 
den Bekenntnißschriften des Protestantismus durchaus im Einklang. Mit 
peinlicher Gewissenhaftigkeit hatte Friedrich Wilhelm bei der Ueberarbeitung 
allen Bedenken und Rathschlägen, die ihm aus kirchlichen Kreisen zu- 
kamen, gerecht zu werden gesucht. Alle seine guten Stunden widmete 
er dieser Arbeit, die unter den Pflichten seines Herrscherberufs seinem 
Herzen am nächsten stand. Er ward nicht müde die Frage immer von 
Neuem gründlich zu erörtern, nicht bloß mit seinen Hoftheologen, auch 
mit Witzleben, auch mit Bunsen in Rom, der durch sein reiches liturgi- 
sches Wissen damals zuerst das Vertrauen des Monarchen gewann. Was 
sich von alten Agenden in dem zersplitterten evangelischen Deutschland 
nur irgend auftreiben ließ, ward in den Zimmern des Königs zusammen- 
getragen; er las und prüfte Alles, bis er endlich den massenhaften Stoff 
vollständiger beherrschte als irgend einer seiner Theologen, und erwartete
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.