Die neue Agende. 397
arglos, daß seine Landeskirche, wie sie soeben auf seinen Ruf die Union
abgeschlossen hatte, nun auch dies Werk seines treuen Fleißes als eine
neue Klammer ihrer Einheit dankbar annehmen würde.
Schmerzlich genug sollte er enttäuscht werden. Die Schwäche des
absoluten Königthums liegt weit mehr in der Menschenfurcht der Höfe
als in dem üblen Willen der Monarchen. Selbst diesem wohlwollenden
Fürsten, der freimüthigen Widerspruch immer bedachtsam prüfte, wagte
selten Jemand die ganze Wahrheit zu sagen, weil er unliebsame Mit—
theilungen im ersten Augenblicke zuweilen mit einem unwirschen Worte auf—
nahm. Seine Umgebungen wußten wohl, wie mannigfache Bedenken
schon der erste Entwurf der Liturgie in kirchlichen Kreisen veranlaßt hatte;
der König aber erfuhr kein Wort davon und war daher aufs Aeußerste über—
rascht, als bei der ersten Umfrage nur eine kleine Minderheit der Geist—
lichen sich zur Annahme der Agende bereit erklärte und von allen Seiten
her heftiger Widerspruch laut ward. Den strengen Reformirten schien es
ein papistischer Gräuel, daß der Geistliche nach lutherischem Brauche beim
Segen das Kreuz schlagen sollte. Denselben Vorwurf erhoben die Ratio—
nalisten; waren sie doch längst gewohnt, sich selber unbefangen für die
rechtmäßigen Erben der Reformation, jeden Andersdenkenden für einen
verkappten Jesuiten anzusehen. Aber auch die gläubigen Lutheraner nahmen
Anstoß an der reformirten Sitte des Brodbrechens, an der einförmigen
Regel, die so viele liebgewordene Ortsbräuche zu verdrängen drohte;
manches Alte, was jetzt wiederkehrte, war im Verlaufe der Zeit vergessen
und erschien den Eiferern als ärgerliche Neuerung, so die Formel „Unser
Vater", die doch wörtlich in der lutherischen Bibel stand.
Der letzte Grund dieser vielgestaltigen Opposition lag in dem Wieder-
erwachen jener republikanischen Gedanken, welche zum Wesen des Protestan-
tismus gehören und in allen Zeiten, da er sich stark fühlt, ihr gutes Recht
fordern. Die oberstbischöfliche Gewalt der Landesherren hatte ihre unver-
geßliche Zeit gehabt, ihr dankte der deutsche Protestantismus, daß er nicht
in gehässige Sekten zerfallen war. Aber das alte Geschlecht der ausfge-
klärten Geistlichen, die sich harmlos nur als Staatsdiener fühlten, ging jetzt
zu Grabe. Die neue Zeit verlangte, vorerst freilich noch in unklaren
Ahnungen, ein selbständiges kirchliches Leben, sie wollte den großen Ge-
danken des Priesterthums der Laien, den Martin Luther streng innerlich
aufgefaßt, auch in der Verfassung der Kirche ausgestaltet sehen. Männer
der verschiedensten Richtungen begegneten sich in solchen Hoffnungen; sie
alle fühlten, daß eine Reform, wie die Agende, die so tief in das innere
Leben der Kirche einschnitt, nicht ohne die Mitwirkung der Kirche selbst
gewagt werden dürfe.
Unverkennbar standen diese neuen kirchlichen Anschauungen in Wechsel-
wirkung mit dem politischen Idealismus der Zeit; ihr mächtigster Wort-
führer Schleiermacher bekannte ebenso offen wie sein Freund Gaß, daß die