Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Die neue Agende. 397 
arglos, daß seine Landeskirche, wie sie soeben auf seinen Ruf die Union 
abgeschlossen hatte, nun auch dies Werk seines treuen Fleißes als eine 
neue Klammer ihrer Einheit dankbar annehmen würde. 
Schmerzlich genug sollte er enttäuscht werden. Die Schwäche des 
absoluten Königthums liegt weit mehr in der Menschenfurcht der Höfe 
als in dem üblen Willen der Monarchen. Selbst diesem wohlwollenden 
Fürsten, der freimüthigen Widerspruch immer bedachtsam prüfte, wagte 
selten Jemand die ganze Wahrheit zu sagen, weil er unliebsame Mit— 
theilungen im ersten Augenblicke zuweilen mit einem unwirschen Worte auf— 
nahm. Seine Umgebungen wußten wohl, wie mannigfache Bedenken 
schon der erste Entwurf der Liturgie in kirchlichen Kreisen veranlaßt hatte; 
der König aber erfuhr kein Wort davon und war daher aufs Aeußerste über— 
rascht, als bei der ersten Umfrage nur eine kleine Minderheit der Geist— 
lichen sich zur Annahme der Agende bereit erklärte und von allen Seiten 
her heftiger Widerspruch laut ward. Den strengen Reformirten schien es 
ein papistischer Gräuel, daß der Geistliche nach lutherischem Brauche beim 
Segen das Kreuz schlagen sollte. Denselben Vorwurf erhoben die Ratio— 
nalisten; waren sie doch längst gewohnt, sich selber unbefangen für die 
rechtmäßigen Erben der Reformation, jeden Andersdenkenden für einen 
verkappten Jesuiten anzusehen. Aber auch die gläubigen Lutheraner nahmen 
Anstoß an der reformirten Sitte des Brodbrechens, an der einförmigen 
Regel, die so viele liebgewordene Ortsbräuche zu verdrängen drohte; 
manches Alte, was jetzt wiederkehrte, war im Verlaufe der Zeit vergessen 
und erschien den Eiferern als ärgerliche Neuerung, so die Formel „Unser 
Vater", die doch wörtlich in der lutherischen Bibel stand. 
Der letzte Grund dieser vielgestaltigen Opposition lag in dem Wieder- 
erwachen jener republikanischen Gedanken, welche zum Wesen des Protestan- 
tismus gehören und in allen Zeiten, da er sich stark fühlt, ihr gutes Recht 
fordern. Die oberstbischöfliche Gewalt der Landesherren hatte ihre unver- 
geßliche Zeit gehabt, ihr dankte der deutsche Protestantismus, daß er nicht 
in gehässige Sekten zerfallen war. Aber das alte Geschlecht der ausfge- 
klärten Geistlichen, die sich harmlos nur als Staatsdiener fühlten, ging jetzt 
zu Grabe. Die neue Zeit verlangte, vorerst freilich noch in unklaren 
Ahnungen, ein selbständiges kirchliches Leben, sie wollte den großen Ge- 
danken des Priesterthums der Laien, den Martin Luther streng innerlich 
aufgefaßt, auch in der Verfassung der Kirche ausgestaltet sehen. Männer 
der verschiedensten Richtungen begegneten sich in solchen Hoffnungen; sie 
alle fühlten, daß eine Reform, wie die Agende, die so tief in das innere 
Leben der Kirche einschnitt, nicht ohne die Mitwirkung der Kirche selbst 
gewagt werden dürfe. 
Unverkennbar standen diese neuen kirchlichen Anschauungen in Wechsel- 
wirkung mit dem politischen Idealismus der Zeit; ihr mächtigster Wort- 
führer Schleiermacher bekannte ebenso offen wie sein Freund Gaß, daß die
	        
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