Hengstenberg. Evangelische Kirchenzeitung. 405
wagt hatte, für Rationalisten sei in der Kirche kein Raum. Alles was
die evangelische Kirche noch an Liebeswerken einer lebendigen christlichen
Gesinnung zu Stande brachte, vollzog sich ohne die Theilnahme, oft sogar
unter dem Spott des Rationalismus, so die Begründung der Königs—
berger Heidenmission durch den greisen Bischof Borowsky. Diesen Nieder—
gang der alten Schule beschleunigte die neue Kirchenzeitung durch schonungs-
lose persönliche Ausfälle und Verdächtigungen; überall hielt Hengstenberg
seine Berichterstatter, die sich vornehmlich die rationalistischen Elementar-
lehrer von Dinter's Farbe zur Zielscheibe wählten, und im Jahre 1830
führte er einen Hauptschlag gegen die Hochburg der Gegner in Halle.
Es war, als sollte der alte Goethe Recht behalten, der in diesen Jahren,
angeekelt durch die zunehmende Gehässigkeit des kirchlichen Streites, schrieb:
Es ist die ganze Kirchengeschichte
Mischmasch von Irrthum und von Gewalt.
Ludwig von Gerlach, der Freund des Kronprinzen, veröffentlichte in der
Kirchenzeitung eine Blumenlese trivialer Spöttereien und ungehöriger
Witze aus den Collegien der beiden Hallenser Rationalisten Wegscheider
und Gesenius, ganz wie einst Jos. Schwartz und die Lunder Orthodogen
die Vorlesungen Pufendorf's hatten behorchen lassen. Der heimüückische
Streich erregte allgemeine Entrüstung; denn die widerrechtliche Veröffent-
lichung akademischer Vorträge hat mit Recht von jeher für ein unehren-
haftes Kampfmittel gegolten, weil sie die Zucht und das Vertrauen der
studirenden Jugend untergräbt. Joh. Neander, der fromm beschauliche
Kirchenhistoriker, sagte sich tief empört von den Denuncianten los, und
der üble Eindruck verwischte sich auch nicht als die Kirchenzeitung dreist
heraussagte: das Vertrauen eines Studenten auf einen rationalistischen
Lehrer sei nicht Pflicht, sondern Sünde. Der Hallische Rationalismus
stand aber bereits auf so schwachen Füßen, daß er selbst einem solchen
Angriff nicht mehr gewachsen war. Gesenius und Wegscheider erlangten
ihr altes Ansehen niemals wieder, und der Anhang ihres bibelgläubigen
Nebenbuhlers, des geistvollen jungen Tholuck wuchs von Jahr zu Jahr.
Das Kirchenregiment befand sich diesen Kämpfen gegenüber in peinlicher
Verlegenheit, da Altenstein zwar den altprotestantischen Lehrbegriff streng
aufrechterhalten wollte und bei Anstellungen die bibelfesten „Neologen“ stets
vor den Rationalisten begünstigte, aber auch jede Störung des kirchlichen
Friedens zu verhindern wünschte. Endlich ward der Hallische Scandal
dadurch beigelegt, daß eine Cabinetsordre aussprach, Zzum Einschreiten gegen
die beiden Professoren sei kein Grund vorhanden, und eine zweite Cabinets-
ordre vom nämlichen Tage dem Minister anbefahl, in Zukunft nur
Männer, welche der Augsburgischen Confession treu ergeben seien, in die
geistlichen Aemter zu berufen. Die kleinen lutherischen Landeskirchen der
Nachbarländer mochten unter der Herrschaft der landesherrlichen Consi-
storien ihr Stillleben noch eine Weile weiter führen; diese große Unions=