426 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
pflicht hinausgefegt, und das Proletariat der Fabriken war erst
im Werden.
Um die Kämpfe des Völkerlebens bekümmerte sich nur ein kleiner Kreis
von Beamten und Gelehrten; der echte Berliner betrachtete den politischen
Stumpfsinn geradezu als einen Vorzug seiner „intellektuellen Bildung“
und spottete mit jener selbstgenügsamen Ironie, die an der Spree für
geistreich galt, über die politische Leidenschaftlichkeit anderer Nationen. Die
Censoren hatten gute Tage, da die drei einzigen politischen Blätter mit
einander um den Preis saftloser Langweiligkeit wetteiferten; nur die Staats-
zeitung brachte zuweilen einmal einen gründlichen Artikel über die Elb-
schifffahrt oder die Klassensteuer aus der Feder eines Geheimen Raths.
Der Besprechung preußischer Zustände ging das Leibblatt des Bürgers,
die Vossische ebenso sorgsam aus dem Wege wie die etwas vornehmere
Spener'sche Zeitung. Als beim Einzuge der Braut des Kronprinzen an
zwanzig Menschen im Gedränge umgekommen waren, wagte kein Berliner
Blatt auch nur der Thatsache zu gedenken, denn wie leicht konnte sich
die Polizeibehörde dadurch beleidigt fühlen. Nur die Local-Satire, die
überall im deutschen Stillleben blühte, und der Theaterklatsch erregten
die Theilnahme der großstädtischen Leserwelt; und wie kläglich war selbst
diese belletristische Plauderei in der Berliner Presse vertreten. Weder der
Herausgeber des „Gesellschafters“" F. W. Gubitz, ein kreuzbraver Mann,
der in einem langen Schriftstellerleben niemals einen einfachen, fehler-
freien deutschen Satz fertig brachte, noch der schreibselige Ludwig Rellstab,
der gefürchtete aber gänzlich harmlose Feuilletonist der Vossischen Zeitung,
konnte sich mit den Kritikern des Stuttgarter Morgenblattes irgend ver-
gleichen.
Einige Jahre lang trieb auch Saphir in Berlin sein Wesen, ein
ungarischer Jude ohne Geist, ohne Geschmack, sogar ohne die gewöhn-
lichsten Schulkenntnisse, aber von unverwüstlicher Frechheit, ein Meister
in der Verfertigung jener faulen Wortwitze, welche nicht zufällig den
Namen Kalauer erhalten haben, da der Märker allein unter allen Ger-
manen sie genießbar findet. Mit Saphir zog die geschäftliche, allein auf
Geldgewinn berechnete journalistische Betriebsamkeit, die in England und
Frankreich längst heimisch war, zuerst in Berlin ein. In zwei Zeitschriften
zugleich, dem Curier und der Schnellpost witzelte er über „Theater, Mode
Eleganz und Localität“ der Hauptstadt, fast noch geistloser als unsere
heutigen Witzblätter, und buhlte mit allen Mitteln der Marktschreierei
um die Gunst „seiner lieben, goldenen Pränumeranten". Da er vor dem
königlichen Hause und den Behörden in tiefster Unterthänigkeit erstarb,
so erlaubte ihm die Censur nach Belieben gegen Dichter und Künstler,
Sänger und Schauspieler seine Klopffechterkünste zu treiben. Das Publi-
kum aber ließ sich von ihm Alles bieten, sogar diese Verse: „Die Dicht-
kunst weibisch ist, das wißt Ihr. Drum Poes-sie sie heißt, nicht Poe-er.“