Handelsvertrag mit Rußland. 475
der günstige Zustand währte kaum zwei Jahre, da erfolgte ein verhäng-
nißvoller Umschwung in der russischen Handelspolitik. Nachdem Czar
Alexander während der letzten Zeit zwischen den Ueberlieferungen des Pro-
hibitivsystems und den liberaleren Doktrinen des Petersburger Prinzen-
erziehers Storch unsicher geschwankt hatte, gewann jetzt der Hesse Cancrin
sein Ohr — wieder einer aus der stolzen Reihe jener gewaltigen Deutschen,
die mit ihrer organisatorischen Kraft den Bau der czarischen Selbstherr-
schaft gefestigt haben, kühn, durchgreifend, zum Herrscher geboren, ganz
erfüllt von dem einen Gedanken, daß „ein werdendes Land eines unab-
hängigen Handelssystems bedürfe".
Mancherlei Mißhelligkeiten mit den russischen Grenzämtern zeigten
den preußischen Behörden längst, daß der Wind in Petersburg umgeschlagen
war. Nachdem der Gesandte Alopeus mehrmals vergeblich bei Hardenberg
angeklopft hatte, erhielt König Friedrich Wilhelm im März 1822 ein Send-
schreiben seines königlichen Freundes (v. 27. Febr.), worin der Czar unter
den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen erklärte, er vermöge die Ver-
letzung der Interessen seiner Unterthanen nicht länger zu ertragen, eine
gebieterische Nothwendigkeit zwinge ihn wesentliche Aenderungen an dem
bestehenden Vertrage zu verlangen — denn allerdings waren die Vortheile
der Uebereinkunft bisher überwiegend den preußischen Fabrikanten zuge-
fallen, da Rußland in diesen Jahren des deutschen Getreideüberflusses
nur wenig nach Preußen ausführte. Alexander berief sich auf einen
geheimen Artikel der Uebereinkunft, welcher vorschrieb: die beiden Regie-
rungen sollten einander alljährlich ihre Beobachtungen mittheilen, um alle
der Ausführung entgegentretenden Schwierigkeiten zu beseitigen und sich
über etwa nöthige Aenderungen zu verständigen. Peinlich überrascht
erwiderte der König: die Frage sei ebenso ernst als schwierig, einzelne Be-
stimmungen ließen sich kaum ändern ohne das Ganze zu gefährden. „Die
Richtung, welche der nationale Gewerbefleiß in meinen Staaten seit dem
Abschlusse unseres Vertrages genommen hat, kann nicht aufgehalten werden
ohne eine zahlreiche Klasse meiner Unterthanen ebenso grausamen als
unersetzlichen Verlusten auszusetzen.““) Indeß befahl er seinen Ministern,
dem geheimen Artikel gemäß, über die russischen Vorschläge zu verhandeln.
Er setzte dabei als selbstverständlich voraus, daß Rußland bis zu einer
neuen Verständigung den bestehenden Vertrag achten werde, denn aus-
drücklich hatten sich beide Kronen verpflichtet, ohne Zustimmung des anderen
Theiles keine Zollerhöhung an der polnischen Grenze vorzunehmen.
Kaum war diese Antwort abgegangen (22. März), so traf schon die
erstaunliche Nachricht ein, daß der Czar durch den Ukas vom 24./12. März
ein strenges Prohibitivsystem eingeführt habe, das die russischen Grenzen
durch Verbote und unerschwingliche Zölle den ausländischen Fabrikwaaren
*) König Friedrich Wilhelm an Kaiser Alexander, 22. März 1822.