Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Handelsvertrag mit Rußland. 475 
der günstige Zustand währte kaum zwei Jahre, da erfolgte ein verhäng- 
nißvoller Umschwung in der russischen Handelspolitik. Nachdem Czar 
Alexander während der letzten Zeit zwischen den Ueberlieferungen des Pro- 
hibitivsystems und den liberaleren Doktrinen des Petersburger Prinzen- 
erziehers Storch unsicher geschwankt hatte, gewann jetzt der Hesse Cancrin 
sein Ohr — wieder einer aus der stolzen Reihe jener gewaltigen Deutschen, 
die mit ihrer organisatorischen Kraft den Bau der czarischen Selbstherr- 
schaft gefestigt haben, kühn, durchgreifend, zum Herrscher geboren, ganz 
erfüllt von dem einen Gedanken, daß „ein werdendes Land eines unab- 
hängigen Handelssystems bedürfe". 
Mancherlei Mißhelligkeiten mit den russischen Grenzämtern zeigten 
den preußischen Behörden längst, daß der Wind in Petersburg umgeschlagen 
war. Nachdem der Gesandte Alopeus mehrmals vergeblich bei Hardenberg 
angeklopft hatte, erhielt König Friedrich Wilhelm im März 1822 ein Send- 
schreiben seines königlichen Freundes (v. 27. Febr.), worin der Czar unter 
den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen erklärte, er vermöge die Ver- 
letzung der Interessen seiner Unterthanen nicht länger zu ertragen, eine 
gebieterische Nothwendigkeit zwinge ihn wesentliche Aenderungen an dem 
bestehenden Vertrage zu verlangen — denn allerdings waren die Vortheile 
der Uebereinkunft bisher überwiegend den preußischen Fabrikanten zuge- 
fallen, da Rußland in diesen Jahren des deutschen Getreideüberflusses 
nur wenig nach Preußen ausführte. Alexander berief sich auf einen 
geheimen Artikel der Uebereinkunft, welcher vorschrieb: die beiden Regie- 
rungen sollten einander alljährlich ihre Beobachtungen mittheilen, um alle 
der Ausführung entgegentretenden Schwierigkeiten zu beseitigen und sich 
über etwa nöthige Aenderungen zu verständigen. Peinlich überrascht 
erwiderte der König: die Frage sei ebenso ernst als schwierig, einzelne Be- 
stimmungen ließen sich kaum ändern ohne das Ganze zu gefährden. „Die 
Richtung, welche der nationale Gewerbefleiß in meinen Staaten seit dem 
Abschlusse unseres Vertrages genommen hat, kann nicht aufgehalten werden 
ohne eine zahlreiche Klasse meiner Unterthanen ebenso grausamen als 
unersetzlichen Verlusten auszusetzen.““) Indeß befahl er seinen Ministern, 
dem geheimen Artikel gemäß, über die russischen Vorschläge zu verhandeln. 
Er setzte dabei als selbstverständlich voraus, daß Rußland bis zu einer 
neuen Verständigung den bestehenden Vertrag achten werde, denn aus- 
drücklich hatten sich beide Kronen verpflichtet, ohne Zustimmung des anderen 
Theiles keine Zollerhöhung an der polnischen Grenze vorzunehmen. 
Kaum war diese Antwort abgegangen (22. März), so traf schon die 
erstaunliche Nachricht ein, daß der Czar durch den Ukas vom 24./12. März 
ein strenges Prohibitivsystem eingeführt habe, das die russischen Grenzen 
durch Verbote und unerschwingliche Zölle den ausländischen Fabrikwaaren 
  
*) König Friedrich Wilhelm an Kaiser Alexander, 22. März 1822.
	        
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