Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

686 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit. 
der arbeitsamste Mann des Zeitalters allgemein für einen bequemen 
selbstischen Epikureer — ein Märchen, das in den Kreisen der Halbbil— 
dung noch durch Jahrzehnte lebendig blieb; wer sich zeitgemäßen Frei— 
sinns rühmen wollte, mußte den Aristokraten Goethe geringschätzen. Für 
diese Entfremdung der Jugend bot es keinen Ersatz, daß die Höchstge— 
bildeten und die Frauen in ihrer Dankbarkeit nicht irr wurden, und 
manche ästhetische Kreise den Cultus des Dichters wie einen Geheimdienst 
betrieben. Die Berliner Goethe-Gemeinde gewann jetzt an Hegel einen 
mächtigen Bundesgenossen; in der Verehrung des absoluten Philosophen 
und des absoluten Dichters genoß der Hegelianer strenger Observanz 
seine eigene Ueberlegenheit, und zum Glück fielen die Geburtstage der 
beiden Heroen im Kalender dicht hinter einander. Da saßen denn am 
Abend des 27. August die Eingeweihten beim Festmahl und gedachten 
ernst des nächtlichen Fluges der Eule der Minerva; sobald aber die 
Mitternachtsstunde ausgeschlagen hatte erhob sich ein Redner um fröhlich 
anzukündigen, daß jetzt Apoll der Gott der Lieder auf seinem Sonnen- 
wagen den heiteren Tag des 28. heraufführe. 
Nicht ohne Bitterkeit bemerkte Goethe, wie die Mittelmäßigkeit, die 
Philisterei und die rohe Tendenz sich abermals, und mächtiger als zu 
Kotzebue's Zeiten, gegen ihn aufbäumten. Er tadelte in scharfen Epi- 
grammen die unglückliche Neigung der Deutschen, sich selber die Freude 
am Schönen und Großen zu verderben, und seufzte zuweilen „ein deutscher 
Schriftsteller, ein deutscher Märtyrer“ — denn jene stoische Unempfind- 
lichkeit, wovon die Sittenprediger fabeln, ist dem Schaffenden, der doch 
für Andere schafft, unmöglich. Aber lange konnte seine fröhliche Lebens- 
kraft sich dem Aerger nicht hingeben, mit einigen Kernflüchen schüttelte 
er sich die Kläffer von den Fersen: „hat doch der Walfisch seine Laus, 
muß ich auch meine haben."“" Den Namen des Meisters wies er ab, 
nur der Befreier der deutschen Dichtung wollte er heißen, und ebendes- 
halb hatte er seine Freude an den Kritikern des Globe, weil sie ihn als 
den Ueberwinder des falschen Regelzwanges anerkannten. Mochten sie ihn 
dann immerhin nach französischem Sprachgebrauch einen Romantiker 
nennen — „was will all der Lärm über classisch und romantisch! Es 
kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut und tüchtig sei 
und es wird auch wohl classisch sein.“ Als vierundsiebzigjähriger Greis 
ward er noch einmal von einer mächtigen Leidenschaft ergriffen. Er über- 
wand sich und fand wie immer Trost im Liede. In der Trilogie der 
Leidenschaft nahm er Abschied von dem Glück und Leid der Liebe, das 
kein anderer Dichter je so tief empfunden. Durch die Liebeslieder seiner 
Jugend war er einst der Liebling aller Weiberherzen geworden; die ge- 
heimnißvolle Gluth dieses Scheidegedichts konnte nur der leiderfahrene, 
gedankenreiche Mann ganz verstehen. Noch einmal beschwor er die viel- 
beweinten Schatten aus seinen seligen Wetzlarer Tagen wieder herauf
	        
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