694 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
das Lesedrama, das nur aus Unvermögen den Ansprüchen der Bühne
nicht genügte. Und wie kräftig schwang der Satiriker seine Geißel. Manche
Witze klangen gezwungen, und mancher Schlag fiel auf edle Häupter, so
auf den jungen Immermann, der allerdings den Dichter des Münchhausen
noch nicht ahnen ließ; im Ganzen war es doch ein guter Kampf gegen
das Platte und Leere, gegen gespreizte Unnatur und gemeine Betriebsamkeit.
Prachtvöll hoben sich dann von dem Spiele des scharfen Witzes die ge-
dankenschweren Parabasen ab. Hier verkündete der Dichter mit unge-
wohntem Feuer, wie tief er selber in das Weltgeheimniß der Schönheit
eingedrungen war. Stolzer hatte seit Schiller's „Künstlern“ Niemand
mehr über den Beruf des Dichters gesprochen; wie ein Nachhall aus
Weimars schönheitsfrohen Tagen klang jene herrliche Weissagung, die ihr
Recht behalten wird so lange die Deutschen sich selber treu bleiben:
Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus!
Neben diesen bedeutenden lyrischen Talenten erschien die epische Dich-
tung arm. Auch sie wurde bereits von dem realistischen Zuge der Zeit
ergriffen. Seit 1821 schrieb Tieck sociale Novellen, die alles Märchen-
hafte abweisend, ihren Stoff dem wirklichen Leben, zumeist der Gegenwart,
entnahmen. So führte derselbe Dichter, der sich einst am weitesten im
Zaubergarten der Romantik verloren hatte, jetzt eine neue, ganz moderne
Kunstgattung in Deutschland ein — denn Kleist's Erzählungen wurden noch
wenig beachtet und die Novellen aus den Wanderjahren beanspruchten
nicht als selbständige Dichtungen zu gelten. Er wollte, wie die alten ita-
lienischen Novellendichter, ein überraschendes, außerordentliches Ereigniß
aus der Wirklichkeit in spannender, rasch ansteigender Erzählung dar-
stellen. Seinem eigenartigen Talente, dem das Einfache stets am fernsten
lag, bot die Novelle mit ihren erlaubten Seltsamkeiten, ihren verwickelten
psychologischen Problemen einen dankbareren Boden als vormals das
Drama, das, demokratisch von Haus aus, nur durch große gemeinver-
ständliche Motive wirken kann. Aber zur classischen Vollendung gelangte
er auch hier nicht. Die Goethische Ehrfurcht vor dem Wirklichen, die
epische Ruhe blieb ihm fremd; er konnte es nicht lassen, beständig selber
aus dem Rahmen der Erzählung hervorzuschauen, so daß dem Leser die
geistreichen Bemerkungen des Dichters über Kunst, Religion, Gesellschaft
oft wichtiger schienen als die Novelle selbst. Von der gläubigen Phan-
tasterei seiner Jugend hatte er sich längst befreit; ja in seiner Novelle:
„Die Verlobung“ kämpfte er gegen die frömmelnde Mode des Tages mit
solcher Schärfe, daß seine streng katholische Tochter Dorothea und andere
fromme Freunde sich entsetzten, Goethe aber dem Dichter Glück wünschte,
der endlich einmal „einen klaren blauen Himmel des Menschenverstandes
und reiner Sitte eröffnet habe“. Aller seiner Schrullen war der alte
Romantiker doch nicht Herr geworden. Immer wieder störte er den Lesern